Geschichte

„Geschichte ist gleichsam zu einer zweiten Natur geworden“, schreibt Johannes Rohbeck (2004: 9). „Geschichte“ ist somit nicht nur ein zentraler Begriff der Geschichtsphilosophie und der Philosophie der Zeit, sondern auch der Naturphilosophie. Für die Naturphilosophie ist besonders das Thema einer Naturalisierung der Geschichte zentral, wie sie sich etwa durch die Evolutionstheorien von Charles Darwin und Ernst Haeckel etablierte. Denn als biologisierte Naturgeschichte erscheint die Geschichte nicht als zweite, sondern als erste Natur. Im Anschluss daran wird das Problem der Teleologie der Natur(geschichte) zu einem wichtigen Thema: Man fragt, ob die Geschichte gemäß einer Entwicklung verläuft und ob sie zu einem Ziel bzw. Ende gelangen kann oder ob sie als offener Fortschritt gedacht wird.

Geschichte beruht auf der Erfahrung des Ungleichzeitigen, die die Geschichtswissenschaft auf verschiedene Weise historiographisch darstellt. „Geschichte“ meint dann eine Darstellungsform, wohingegen die zeitlich aufeinanderfolgenden Ereignisse „Geschichte“ als Sachverhalt bedeuten. In einer Chronologie der Ereignisse können beide Bedeutungen von „Geschichte“ in eins fallen und eine scheinbar unproblematische Relation von Inhalt und Form der Geschichte suggerieren. Jedoch umfasst die moderne Geschichtswissenschaft verschiedene historiographische Methoden und Zugänge zur Geschichte, die das vermeintlich objektive Ereignis durch das subjektive Erlebnis bzw. die Erfahrungsgeschichte ergänzen und methodisch mit Quellen absichern. Demgegenüber ist in einem biologischen Geschichtsverständnis die Geschichte des Individuums (Ontogenese) wie der Gattung (Phylogenese) nur durch Ereignisse beschreibbar. Die Perspektive der Ersten Person scheint verzichtbar (vgl. Bios und Zoe). Für die Historisierung der Biologie sind die Paläontologie mit ihrem Gegenstandsbereich der Fossilien (als Quellen) sowie die Geologie unverzichtbare Disziplinen. Hingegen ist es für die Geschichtswissenschaft eine durchaus umstrittene Frage, inwieweit die Archäologie mit ihren ungeschriebenen Quellen ein zeitliches Fundament der Geschichtswissenschaft sein kann.

Die im 19. Jahrhundert im Historismus vorgelegten Konzepte einer Theorie der Geschichtswissenschaft (Historik) konnten sich bislang nicht durchsetzen. Der zentrale Gegeneinwand gegen die Historik, der auch gegen die theoretisch verwandte Weltanschauungslehre und damit gegen eine bestimmtes Verständnis von Philosophie als Meta-Philosophie vorgebracht wurde, besteht darin, dass man für eine Theoriebildung ein Meta-Subjekt mit einem eindeutigen Beobachterstandpunkt voraussetzen müsse. So erschiene die geschriebene Geschichte als wertfrei und entmaterialisiert, wenngleich Geschichte immer mit Interpretation verbunden sei. Zur Vermittlung von Inhalt und Form müsse sich die Historik auf bestimmte Typen konzentrieren, die nicht ohne Rückgriff auf Materialitäten gebildet werden könnten. Das Typuskonzept ist auch für die naturalistische Geschichtsvorstellung im Ausgang von Charles Darwin zentral und wird in der Philosophie der Biologie diskutiert.

Wichtig ist die Einsicht, dass der moderne Geschichtsbegriff selbst das Ergebnis eines geschichtlichen Prozesses ist (Rohbeck 2004: 19). Die Vorstellung einer Naturgeschichte hat weitreichenden Einfluss auf die Geschichtsphilosophien von Kant und Hegel ausgeübt. Im Wesentlichen war die zugrunde liegende Zeitvorstellung an eine Kausalitätstheorie sowie an das Konzept der Bewegung gekoppelt. Die durch Poincaré 1904 vorbereitete und durch Albert Einstein 1905 formulierte Spezielle Relativitätstheorie mit ihrer neu konzipierten Relationalität von Raum und Zeit hat den Blick für den Begriff „Perspektive“ geschärft und v.a. das Konzept der Gleichzeitigkeit relativiert. Jene Einsichten sind u.a. in die Wissenschaftsphilosophie von Gaston Bachelard, in die Phänomenologien von Edmund Husserl und Martin Heidegger sowie in die Kulturphilosophie von Ernst Cassirer eingegangen. Hinzu kamen technische Neuerungen wie die Kinematographie, die auf theoretischer Ebene eine Diskussion um die Simultaneität der Modi (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) und die Zeitlichkeit der Zeit auslöste und damit auch die Frage nach der technischen Reproduzierbarkeit der ’natürlich’ erlebten Zeit stellte. Für die Geschichtsphilosophie und die Historiographie des 20. Jahrhunderts problematisierte sich insbesondere der Begriff der Gegenwart, die nicht mehr ohne Weiteres durch Gleichzeitigkeit gekennzeichnet werden konnte. Eine Folge ist die von Martin Heidegger 1924 formulierte Ansicht, dass die Geschichte ihren Ausgangspunkt nicht in der Gegenwart, sondern in der Zukunft findet – weil sie mit der Vergangenheit auch immer auf etwas hinaus will.

Nicole C. Karafyllis

(Zitiervorschlag: Karafyllis, Nicole C. 2012: Geschichte [Version 1.0]. In: Kirchhoff, Thomas (Redaktion): Naturphilosophische Grundbegriffe. www.naturphilosophie.org.) Copyright bei der Autorin.

Basisiteratur

  1. Bach, Thomas/Marino, Mario (Hg.) 2011: Naturforschung und menschliche Geschichte. Universitätsverlag Winter, Heidelberg.
  2. Darwin, Charles 1963: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl. Reclam, Stuttgart (Englisches Original 1859: On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life. Murray, London).
  3. Hegel, Georg W. F. 1970: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: Ders.: Werke, Bd. 12. Suhrkamp, Frankfurt/M.
  4. Hübner, Dietmar 2011: Die Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus. Kohlhammer, Stuttgart.
  5. Rohbeck, Johannes 2004: Geschichtsphilosophie zur Einführung. Junius, Hamburg.

Weiterführende Literatur

  1. Benjamin, Walter 1980: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band I, Werkausgabe Band 2, herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. [Dritte, autorisierte Fassung von 1939]. Suhrkamp, Frankfurt/M.: 471–508.
  2. Carrier, Martin 2009: Raum – Zeit. De Gruyter, Berlin.
  3. Fukuyama, Francis 1992: Das Ende der Geschichte. München, Kindler.
  4. Haeckel, Ernst 1868: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Reimer, Berlin.
  5. Heidegger, Martin 1995 [1924]: Der Begriff der Zeit. 2. Auflage. Tübingen, Niemeyer.
  6. Karafyllis, Nicole C. 2011: Was es heißt, geschichtlich zu sein – ein Kommentar zu Jörn Rüsens Ansatz der Historik als Theorie der Geschichtswissenschaft. Erwägen Wissen Ethik 22 (4): 539-542.
  7. Rüsen, Jörn 2011: Historik. Umrisse einer Theorie der Geschichtswissenschaft. Erwägen Wissen Ethik 22 (4): 477-490.