Organismus (Glossareintrag)

Der Ausdruck ’Organismus’ dient in der Wissenschaftssprache der Biologie zunächst als sehr verbreiteter sortaler Term zur Bezeichnung von Lebewesen. In dieser Bedeutung ist ein Organismus „ein individualisiertes Naturwesen, welches die Erscheinungen des Lebens zeigt, vor allem Stoffwechsel (Ernährung, Wachstum) und Fortpflanzung“ (Heinrich Schmidt 1912). Daneben kommt dem Begriff theoretische Bedeutung zu, insofern er sich auf ein epistemisches Modell zur Erklärung der Lebenserscheinungen bezieht; im Mittelpunkt dieses Modells steht die Erklärung der Lebensfunktionen durch die (dezentrale) Organisation der Teile eines individuellen Systems.

Als Organisation betrachtet ist ein Organismus ein materielles System aus wechselseitig voneinander abhängigen Teilen und Prozessen, das in physischer und funktionaler Hinsicht eine integrierte Einheit bildet und die charakteristischen Lebensfunktionen und Aktivitäten aufweist (wie Ernährung, Schutz vor Störungen und Rezeption von Umweltereignissen). Die physische Einheit eines Organismus besteht in seiner materiellen Verfasstheit in einem kontinuierlich bestehenden kohärenten Körper, dessen Stoffe und Form jedoch einem Wechsel unterliegen können (Metabolismus, Metamorphose). Die funktionale Einheit des Systems liegt in seiner Organisation, das heißt in einem Gefüge aus Prozessen, die seine materiellen Teile erzeugen und erhalten und die damit, als Prozesse eines jeweiligen Typs, wechselseitig voneinander abhängen. Dieses Zusammenspiel seiner Funktionen und Aktivitäten konstituiert die Identität des Systems über alle Stoff- und Formänderungen hinweg.

Das zeitliche Ende eines Organismus tritt entweder mit der Zerstörung der Einheit der Wechselseitigkeit seiner Teile, das heißt seinem Tod, ein oder (bei Organismen, die dazu in der Lage sind, wie den Einzellern) mit seiner Teilung in gleich große Nachkommenorganismen. Über das in der Regel vorhandene besondere Vermögen der Fortpflanzung haben viele Organismen die Fähigkeit, neue Organismen der gleichen Art hervorzubringen (bei sexueller Fortpflanzung erfolgt dies in der Interaktion mit anderen Organismen). In selektionstheoretischer Perspektive bildet ein Organismus diejenige Ebene der Selektion, auf der die Konkurrenz unter den replikationsfähigen Teilen der Einheiten dieser Ebene (wie den Zellen und Genen eines Organismus) minimal ist, die Konkurrenz zu anderen Entitäten auf dieser Ebene (den anderen Organismen der gleichen Art) aber maximal.

Georg Toepfer

(Zitiervorschlag: Toepfer, Georg 2013: Organismus [Version 1.0]. In: Kirchhoff, Thomas (Redaktion): Glossar naturphilosophischer Grundbegriffe. www.naturphilosophie.org.) Copyright beim Autor.

Basisliteratur

  1. Duchesneau, Francois 1998: Les modèles du vivant de Descartes à Leibniz. Vrin, Paris.
  2. Cheung, Tobias 2006: From the organism of a body to the body of an organism: occurrence and meaning of the word ‘organism’ from the seventeenth to the nineteenth centuries. The British Journal for the History of Science 39 (3): 319-339.
  3. Huneman, Philippe/Wolfe, Charles T. (eds.) 2010: The concept of organism. Historical, philosophical, scientific perspectives. History of Philosophy of the Life Sciences 32 (2-3).