Was ist Naturphilosophie?
Naturphilosophie ist derjenige Bereich der Philosophie, dessen Thema Natur, das Wissen von ihr und das Verhältnis von Menschen zu ihr ist. Sie thematisiert die Charakteristika und Bedingungen der Möglichkeit der heutigen und geschichtlichen lebensweltlichen sowie wissenschaftlichen Naturauffassungen und geht deren Interdependenzen nach. Ihr Aufgabenfeld lässt sich, entsprechend der traditionellen Gliederung der Philosophie, dreiteilen in die Analyse von Natur als Inhalt bzw. Gegenstand theoretischer, praktischer und ästhetischer Urteile.
Insofern Naturphilosophie Natur als Gegenstand der Erfahrungswissenschaften thematisiert, überschneidet sie sich mit der Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften. Sie geht aber nicht – wie es manche Definitionen von Naturphilosophie unterstellen – in dieser auf. Denn sie umfasst nicht nur eine Analyse der Methodik und gesellschaftlichen Wirkungen naturwissenschaftlicher Erkenntnis, sondern auch eine Reflexion auf Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnis sowie auf nicht-naturwissenschaftliche Naturauffassungen und Naturerfahrungen. Damit können zugleich stillschweigende ontologische Prämissen in den Blick geraten, die nicht nur vormodernen Wissenschaften, sondern auch modernen empirischen Naturwissenschaften immanent sind.
Zentrale Aufgaben heutiger Naturphilosophie
Die naturwissenschaftliche Erkenntnis ermöglicht heute technische Veränderungen der Natur, die dadurch ihren ehemals unverfügbaren Charakter verliert und in wachsendem Maß zum Handlungsgegenstand wird. Zu den Kernaufgaben von Naturphilosophie im 21. Jahrhundert gehört es, über die so entstandenen Gestaltungspotenziale und Freiräume ebenso nachzudenken wie über die Grenzen und Bedrohungspotenziale von technologischen Eingriffen in natürliche Gegebenheiten. Neben terminologischen Konsequenzen für den Naturbegriff und dessen ontologische Ausdeutung sind hierbei vor allem auch anthropologische, kulturelle und ethische Konsequenzen in den Blick zu nehmen. Wie haben die neuen technischen Gestaltungsspielräume unser Verständnis der Relation von Natur und Technik, unser Bild des Lebendigen und das Selbstverständnis des Menschen bereits verändert?
Die technische Veränderbarkeit der Bestandteile und Organisationsstrukturen von Natur lässt auch die Zugehörigkeit des Menschen zur Natur fraglich werden und führt zudem zur Auflösung bisheriger Gattungsgrenzen innerhalb der Natur. Wenn aber nicht mehr eindeutig bestimmbar ist, wo die Grenze zwischen menschlichem und vor-, außer- und übermenschlichem Leben verläuft, dann verlieren die gattungsspezifischen Zuschreibungen ihren tradierten Sinn und neue Bestimmungen sind gefordert.
Naturphilosophie verhandelt die Vieldeutigkeit und Wandelbarkeit des Naturbegriffs in erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer wie auch kulturanthropologischer und ethischer Hinsicht. Sie denkt nicht nur über die Natur als Referenzbegriff der Naturwissenschaften nach, sondern auch über die Natur als lebensweltliches Objekt und Orientierungskonzept. So wird in wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht der Verlust der ’einen’ Natur als tragendem Grund und verbindlichem Orientierungsrahmen ernst genommen und zugleich der Gewinn neuer Perspektiven – der Mensch als Natur und die Natur als Umwelt des Menschen – reflektiert.
Im 21. Jahrhundert sind die Dimensionen der Wissenschaftstheorie und der Wissenspraxis im Hinblick auf ihren Erkenntnis- und Handlungsgegenstand Natur naturphilosophisch neu zu vermessen. Die zunehmende biotechnologische Veränderbarkeit des Menschen, die ihn zunehmend aus der Natur herauslöst, und die scheinbar unbegrenzte Möglichkeit, die Natur als Umwelt des Menschen zu (re)konstruieren, mehr noch: die Technik zu renaturieren, machen dies erforderlich.
(Zitiervorschlag: Kirchhoff, Thomas (Redaktion) (2012): Was ist Naturphilosophie? [Version 1.3]. www.naturphilosophie.org.)