Naturzustand

Der Naturzustand ist eine Idee vom Wesen des Menschen. Diese Idee besagt, dass es einen natürlichen Zustand des menschlichen Zusammenlebens gibt – gewissermaßen eine unschuldige Form sozialer Beziehungen. Er entspricht der Natur des Menschen, so wie sie von Gott geschaffen den Gesetzen der Natur gemäß besteht. Das Paradies ist eine Vision dieses Zustandes.

Der Begriff des Naturzustands wurde geprägt im Rahmen von Theorien des Naturrechts. Im Naturrecht wird der Naturzustand der Möglichkeit einer vernünftigen gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung gegenübergestellt. Er setzt die Vorstellung der Trennung einer gesellschaftlichen Ordnung (Nomos) von der Naturordnung (Physis) voraus, und wurde ideengeschichtlich jeweils unter der Perspektive dieser Trennung (z. B. Hobbes) oder aber einer notwendigen neuerlichen Einheit (auf höherer Stufe: z. B. Rousseau) jener Ordnungen konzipiert. In jedem Falle muss die staatliche Ordnung den Naturzustand berücksichtigen, um nicht der Natur des Menschen zuwider zu sein und ihn zugleich mit Mitteln der ↑ Vernunft überwinden (Naturrecht).
Für die moderne Theorie demokratischer Gesellschaften sind die Begriffe des Naturzustands, wie sie von Hobbes, Locke und Rousseau in ihren Naturrechtslehren formuliert wurden, grundlegend. Sie repräsentieren beispielhaft alternative Menschenbilder innerhalb der abendländischen Kultur. Welche Eigenschaften der Menschen als deren Natur konstatiert werden, hängt davon ab, welche Aspekte der ökonomischen und politischen Realität in den Vordergrund gerückt und als wesenhaft in den Menschen bzw. den Naturzustand projiziert werden. So reflektieren die Theorien vom Naturzustand gesellschaftliche Ist-Zustände und überhöhen diese philosophisch in Wesensbestimmungen des Menschen. Im Falle des Liberalismus handelt es sich um Reflexionen der sich auf Grundlage des Kapitalismus formierenden bürgerlichen Gesellschaft.
Wenn die Theorien über den aktuellen gesellschaftlichen Prozess unbewusst heuristisch in die Sichtweise von Natur projiziert und anschließend als Formen vernünftig gestalteten, naturgemäßen gesellschaftlichen Lebens mit diesen naturwissenschaftlichen Theorien zirkulär begründet werden, spricht man von ↑ Naturalismus.

Hobbes sieht den Naturzustand im Kampf aller gegen alle; das Wesen des Menschen charakterisiert er so: Der Mensch ist des Menschen Wolf („Homo homini lupus est“). Dem Naturgesetz menschlicher Vernunft folgend muss er daher – dem allgemeinen Frieden zuliebe – alle Rechte auf natürliche Entfaltung an den Staat (Leviathan) abgeben. Der dient dem Schutz der Bürger bei ihren zivilen Geschäften und Interessenkonflikten.
Locke dagegen begründet das Wesen des Staates mit dem Schutz des Eigentums. Der Naturzustand ist weniger durch Kampf charakterisiert, als vielmehr „ein Zustand vollkommener Freiheit [des Menschen], innerhalb der Grenzen des Naturgesetzes seine Handlungen zu lenken und über seinen Besitz und seine Person zu verfügen, wie es ihm am Besten scheint – ohne jemandes Erlaubnis einzuholen und ohne von dem Willen eines anderen abhängig zu sein“ (Locke 1966: 9). „Die einzige Möglichkeit, diese natürliche Freiheit aufzugeben und die Fesseln bürgerlicher Gesellschaft anzulegen, ist die, daß man mit anderen Menschen übereinkommt, sich zusammenzuschließen und in eine Gemeinschaft zu vereinigen, mit dem Ziel, behaglich, sicher und friedlich miteinander zu leben – in dem sicheren Genuß des Eigentums“ (ebd.: 78).
Beide Menschenbilder stehen in der Tradition, die mit den Sophisten in der griechischen Antike begann und über die nominalistische christliche Philosophie, insbesondere Wilhelm von Ockham, in England im Empirismus und Liberalismus wirksam wurde. Der Einzelne ist durch individuelle Überzeugungskraft (Sophisten), individuelle Kampfbereitschaft (Hobbes) oder individuelles Freiheitsbewusstsein in Verbindung mit Arbeitswillen, um Besitz zu bilden (Locke), seiner Natur nach völlig unabhängig von übergeordneten, höheren Instanzen; im sozialen Sinne ist er eine „tabula rasa“, genauso wie er es im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess ist: Völlig unvoreingenommen beobachtet er Einzelereignisse und schließt induktiv auf Zusammenhänge, die ihm der Verstand eröffnet und gebietet. Das gesetzmäßige Ganze der Naturerscheinungen ergibt sich aus der Konstruktion eines vernünftigen Zusammenhangs von Einzelheiten – gewissermaßen ‛von unten’. Genauso in der Gesellschaft: Solche Instanzen wie der Staat werden aus Gründen der Vernunft in der Weise von den Bürgern konstruiert, dass sie, ausgehend von der Natur der vielen menschlichen Einzelwesen, dementsprechend vernünftige Regeln setzen und Zusammenhänge herstellen.

Rousseau zufolge leben die Menschen im Naturzustand frei – ähnlich wie Locke es annimmt (jedoch bestimmt Rousseau diesem entgegen Besitzstreben als ein Urübel) – und sind auf Selbsterhaltung bedacht. Sie bekämpfen sich nicht wie bei Hobbes, aber sie folgen auch keinerlei sozialem Naturtrieb, wie etwa bei Grotius, einem frühen Naturrechtstheoretiker, sondern sind „gleichgültig“ im doppelten Wortsinne. Die einzige soziale Regung ist Mitleid. „Im Stand der Natur aber ist das Mitleid ein guter Ersatz für Gesetze und Sitten und Tugend“ (Rousseau 1931: 86).
Rousseaus Idee des Naturzustands bzw. seine Theorie der Entwicklung vom Naturzustand zur Zivilisation kann mit der Genesis parallelisiert werden (vgl. Barth 1960: 196). Er will den Menschen als „ein Tier unter Tieren“ (Rousseau 1931: 83) sehen, auch wenn er in Rechnung stellt, dass ihm „übernatürliche Gnaden“ (ebd.) zuteil wurden. Aber es gibt im Naturzustand kein Bewusstsein von gut und böse, und erst die Reflexion auf sich selbst in Kombination mit egoistischen Motiven zerstört diesen „kindliche[n]“ (ebd.: 87) Zustand. Wäre das nicht geschehen, wäre der Mensch „immer in seiner ursprünglichen Verfassung geblieben“ (ebd.: 88). Aber Rousseau will die Säkularisation durchführen: Er will darstellen, wie die in der Naivität gleichwohl gegebene, ursprüngliche „Ausstattung“ mit Tugend zur „erheblichen Ungleichheit“ (ebd.) in zivilisierten Gesellschaften führen konnte, d. h., wie das, was der Verbannung aus dem Paradies entspräche, auf der Ebene „geschichtliche(r) Quellen“ und mittels „Philosophie“ (ebd.) behandelt werden kann.
Dieses Menschenbild steht – wenngleich nicht mehr in einem metaphysischen Sinne – in der Tradition eines (protestantischen) Universalienrealismus und Rationalismus: Die einzelnen Bürger verhalten sich zwar – im Idealfalle – so, als sei ihr Verhalten Ausdruck eines höheren Allgemeinen, jedoch folgen sie mit ihrem Verhalten – im Unterschied zum metaphysischen Begriff vom Allgemeinen – einer durch sie selbst konstituierten Souveränität ihrer selbst als gesellschaftliches Ganzes. Hierin fallen Tugend und Vernunft zusammen, und Gleichheit führt zu Freiheit. Natürliches und geistbestimmtes Sein fallen bei Rousseau entwicklungsgeschichtlich auseinander – wie sie es bei Descartes metaphysisch tun mit der Unterscheidung von res cogitans und res extensa –, aber in der Demokratie können sie eine neue Einheit bilden; denn auch das „Neue bei Rousseau … bedeutet theologisch nicht weniger als die Schlichtung des Streites zwischen Vernunft und Offenbarung, indem der Mensch durch sie angeleitet wurde, sich selbst als Vernunft und je als Offenbarung zu begreifen“ (Barth 1960: 206).

Ulrich Eisel

(Zitiervorschlag: Eisel, Ulrich 2012: Naturzustand [Version 1.0]. In: Naturphilosophische Grundbegriffe, www.naturphilosophie.org). Copyright beim Autor.

Basisliteratur

  1. Hobbes, Thomas 1949: Grundzüge der Philosophie, Bd. 2. Zweiter und dritter Teil: Lehre vom Menschen/Lehre vom Bürger. Meiner, Leipzig: daraus 59-130/Kapitel 1-5. Leipzig. (Zuerst 1646).
  2. Locke, John 1966: Über die Regierung. Reinbek, Rowohlt. (Zuerst 1689).
  3. Nonnenmacher, Günther 1989: Die Ordnung der Gesellschaft. Mangel und Herrschaft in der politischen Philosophie der Neuzeit: Hobbes, Locke, Adam Smith, Rousseau. Weinheim, VCH/Acta Humaniora.
  4. Rousseau, Jean-Jacques 1931: Discours über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. („Zweiter Discours“) In: Ders.: Die Krisis der Kultur. Die Werke ausgewählt von Paul Sakmann. Leipzig, Kröner: 75-98. (Zuerst 1755).
  5. Strauss, Leo 1977: Naturrecht und Geschichte. Frankfurt/M., Suhrkamp.

Weiterführende Literatur

  1. Barth, Karl 1960: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte. Zürich, Evangelischer Verlag: daraus 153-207.
  2. Flückiger, Felix  1954: Geschichte des Naturrechtes, Band I: Die Geschichte der europäischen Rechtsidee im Altertum und Frühmittelalter. Zollikon-Zürich, Evangelischer Verlag.
  3. Habermas, Jürgen 1967: Naturrecht und Revolution. In: Ders. (Hg.): Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien. Neuwied & Berlin, Luchterhand: 52-88.
  4. Hobbes, Thomas 1984: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Herausgegeben und eingeleitet von Iring Fetscher. Frankfurt/M., Suhrkamp. (Zuerst 1651).
  5. Kötzle, Markus 1999: Eigenart durch Eigentum. Die Transformation des christlichen Ideals der Individualität in die liberalistische Idee von Eigentum. München, Technische Universität München. (= Eisel, Ulrich/Trepl, Ludwig (Hg.): Beiträge zur Kulturgeschichte der Natur, Bd. 10).
  6. Mayer-Tasch, Peter C. 1966: John Locke – der Weg zur Freiheit. In: Ders. (Hg.): John Locke – Über die Regierung. Hamburg, rororo: 195-237.
  7. Rousseau, Jean-Jacques 1931a: Der Gesellschaftsvertrag. In: Ders.: Die Krisis der Kultur. Die Werke ausgewählt von Paul Sakmann. Leipzig, Kröner: 245-278. (Zuerst 1755).
  8. Voigt, Annette 2009: Die Konstruktion der Natur: Ökologische Theorien und politische Philosophien der Vergesellschaftung. Stuttgart, Steiner: daraus 62-133.
  9. Welzel, Hans 1962: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht.