Materie

Unser Begriff ’Materie’ geht auf das Lateinische ’materia’ zurück, was etymologisch mit ’mater’ (= Mutter) und ’matrix’ (= Gebärmutter) zusammenhängt, während das griechische Wort für ’Materie’ ’hyle’ heißt (= Holz).

Gegenüber diesen mehr lebenspraktischen Materiebegriffen setzt sich seit dem 17. Jahrhundert ein wissenschaftlich-theoretischer Materiebegriff durch, der auf die Physik zurückgeht. Die Newtonsche Physik wird gerne so verstanden, als setze sie kleine ’Wirklichkeitsklötzchen’ als letzte Träger der Realität voraus. Allerdings spricht die Newtonsche Theorie von ’Masse’ und nicht von ’Materie’ und Newton nennt ’Masse’ zutreffend „quantitas materiae“, d.h. der Begriff der ’Masse’ bezeichnet eine Eigenschaft der Materie, nicht diese selbst. Was die Physik – bis heute – untersucht, sind bestimmte relationale Eigenschaften der Materie, wobei unklar bleibt, was das zugrundeliegende Substrat eigentlich sein könnte.

Aus diesem Grunde ist die Diskussion über eine Ontologie der Physik bis heute ohne abschließendes Ergebnis geblieben (siehe z.B. Esfeld 2012). Manche Autoren ontologisieren die Formeln der Physik direkt und halten die durch sie bestimmten Strukturen oder Relationen für das eigentlich Reale. Andere fordern dazu Relate, nämlich Raum-Zeit-Punkte, während wieder andere die Raum-Zeit selber für das eigentlich Reale halten. Ebenso wurden Tropenontologien vorgeschlagen, wonach individuierte Eigenschaften, die nicht auf etwas Substanzielles verweisen, Realitätsträger sein sollen. Eine einheitliche Ontologie der Physik gibt es nicht. Charakteristischerweise bestimmt aber keiner von denen, die sich an dieser Diskussionen beteiligen, die Materie als ontologischen Träger. Der Grund liegt darin, dass ’Materie’ nicht zu den fachwissenschaftlichen Begriffen der Physik gehört.

Der Materiebegriff wird allerdings von Physikern zur Grobcharakterisierung herangezogen, wenn sie etwas handfestere Entitäten im Verhältnis zu weniger handfesten bezeichnen wollen. In diesem Sinn hat etwa de Broglie (1949) von „Licht und Materie“ gesprochen, andere sprechen von „Materie und Energie“ (statt von „Masse und Energie“) oder von „Materie und Feld“ (statt von „Partikel und Feld“). Man hat sogar die Materie der Raumzeit entgegensetzen wollen. In all diesen Fällen würde ’Materie’ etwas ganz anderes bedeuten, abgesehen davon, dass dann jeweils so verschiedene Dinge wie Licht, Energie, Feld usw. etwas Nichtmaterielles, Geistiges sein müssten.

Dieser laxe Sprachgebrauch hängt damit zusammen, dass die natürliche Sprache Metasprache aller formalen ist und das Verständigungsmittel, dessen sich auch die Physiker bedienen müssen. Man darf aber solche alltagssprachlichen Semantisierungen nicht mit wissenschaftlichen Bestimmungen verwechseln. In solchen Fällen machen die Physiker Gebrauch von unserem praktisch-lebensweltlichen Materiebegriff, der sich in der Spannung zwischen technisch-praktischer Zwecksetzung und zu bearbeitendem Material/Substrat abspielt. Ersteres ist etwas Geistiges, weniger ’Handfestes’, letzteres lässt sich anfassen. Es ist dieser Gegensatz, der als Interpretament in der Physik fungiert, ohne deshalb ihr Resultat zu sein. Es verhält sich damit ganz ähnlich wie beim Begriff der ’Kausalität’, der ebenfalls in keiner physikalischen Formel vorkommt, sondern, wie von Wright (1974) und Strawson (1994) gezeigt haben, von unserer praktischen Lebenswelt aus analogisch auf die Physik übertragen wird. Es ist damit so ähnlich, wie wenn Astrophysiker von der ’Geburt’ oder vom ’Tod’ eines Sternes sprechen, was man auch nicht wörtlich nehmen sollte.

Der Begriff der ’Materie’ hat also seinen eigentlichen Ort im Bereich des Technisch-Praktischen. Darauf verweist das griechische Wort für Materie ’hyle’, während der Bezug auf das Lateinische ’mater’ bzw. ’matrix’ sich nur noch in etwas überschwänglichen Spekulationen wie bei Bloch (1985) findet, für den die Materie Quellgrund aller Dinge war.

Weniger prätentiös ist unser praktisch-technischer oder handwerklicher Begriff von ’Materie’. Danach ist sie das Ermöglichende und zugleich Widerständige/Chaotische. Allerdings nur in dieser von der Theorie verschiedenen Perspektive des praktisch-poietischen Herrichtens, d.h. in einer teleologischen Perspektive. Das erinnert an den Aristotelischen Materiebegriff, in dem dieses Ermöglichende und Widerständige/Chaotische immer mitgedacht wurde. Allerdings hat Aristoteles den technisch-praktischen Umgang mit der Materie ontologisiert, indem er ganz allgemein von ’hyle’ (= Materie) und von ’morphe’ (= Form) sprach, die in der Substanz aller Dinge vereinigt sein sollten. In der weniger voraussetzungsreichen Metaphysik neuerer Sprachphilosophen, wie etwa bei Lowe (2002), wird der Formbegriff aus dem Ding-Eigenschafts-Schema eliminiert. Zurück bleibt der sinnvolle Gedanke der Materie als Korrelat des technisch-praktischen Handelns im Sinn eines Ermöglichungsgrundes und des Widerständigen/Chaotischen zugleich. Legt man eine solche Metaphysik zugrunde, dann ergänzen sich diese praktischen Bestimmungen der Materie und die Einsichten der Physik mit ihren nomologisch beschreibbaren Eigenschaften, statt sich zu widersprechen.

Betrachtet man die Materie, wie in der Antike oder im Mittelalter, nur vom Standpunkt des Know-how, dann wird technisches Handeln zu einem wenig systematischen Herumprobieren, das vom Unvorhersehbaren der Materie ständig bedroht ist. Betrachtet man hingegen die Materie nur im Hinblick auf ihre Berechenbarkeit, dann scheint eine wissenschaftsgestützte Technik zwar höchst effizient möglich, aber in der idealen, mathematischen Beschreibung geht dann genau dieser Aspekt des Unvorhersehbaren verloren und technische Katastrophen wirken dann wie prinzipiell zu vermeidende Unfälle, obwohl sich doch in der Unvollkommenheit der Technik nicht zuletzt das Unberechenbare der Materie zeigt, als ein nicht aus der Welt zu schaffendes Indiz unserer Endlichkeit.

Hans-Dieter Mutschler

(Zitiervorschlag: Mutschler, Hans-Dieter 2012: Materie [Version 1.0]. In: Kirchhoff, Thomas (Redaktion): Naturphilosophische Grundbegriffe. www.naturphilosophie.org.) Copyright beim Autor.

Basisliteratur

  1. Göpel, Wolfgang/Ziegler, Christiane 1991: Struktur der Materie: Grundlagen, Mikroskopie und Spektroskopie. Stuttgart, Teubner.
  2. Gräfen, Hubert 1991: Lexikon Werkstofftechnik. Düsseldorf VDI-Verlag.
  3. Hund, Friedrich 1978: Geschichte der physikalischen Begriffe. Mannheim, B.I. Wissenschaftsverlag.
  4. Jammer, Max 1964: Der Begriff der Masse in der Physik. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
  5. Mainzer, Klaus 1996: Materie. Von der Urmaterie zum Leben. München, Beck.
  6. Mutschler, Hans-Dieter 2002: Naturphilosophie. Stuttgart, Kohlhammer.
  7. Russell, Bertrand 1992: The analysis of matter. London, Routledge.

Weiterführende Literatur

  1. Aristoteles 1987: Physik, Hamburg, Meiner.
  2. Bloch, Ernst 1985: Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz. Frankfurt, Suhrkamp.
  3. Broglie, Louis de 1949: Licht und Materie. Beiträge zur Physik der Gegenwart. Hamburg.
  4. Esfeld, Michael (Hg.) 2012: Philosophie der Physik. Frankfurt, Suhrkamp.
  5. Lowe, Jonathan 2002: A survey of metaphysics. Oxford, Oxford University Press.
  6. Newton, Isaac 1988: Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie. Hamburg, Meiner.
  7. Strawson, Peter F. 1994: Analyse und Metaphysik. Eine Einführung in die Philosophie. München, dtv.
  8. Wright, George H. v. 1974: Causality and determinism. New York, Columbia University Press.