Natur

Das Wort „Natur“ ist aus dem lateinischen „natura“ abgeleitet, das seinem Inhalt nach im Wesentlichen dem frühgriechischen „physis“ (φύσiς) entspricht. „Physis“ bezeichnet sowohl den Prozess des Werdens, Wachsens, Blühens oder Aufgehens als auch die Beschaffenheit oder das Wesen eines Dinges. Was etwas ist, die Natur eines Dinges, geht aus seiner Entstehung und weiteren Entwicklung hervor.

Nur wenige Begriffe nehmen in der europäischen Kulturgeschichte eine so zentrale Stellung ein wie der Begriff der Natur. Die Geschichte des Naturbegriffes stellt sich als ein schier unüberschaubares Feld von Bestimmungen und Verweisungszusammenhängen dar. Natur war das Vertraute, selbstverständlich Vorhandene, aber auch das Fremde, dem Menschen teils feindlich Gegenüberstehende; sie war das Undurchschaubare, aber auch das nachvollziehbar Geordnete.

Eine erste historische Gliederung relevanter Begriffsgruppen erhält man, wenn man eine Epocheneinteilung vornimmt, wie sie für die Philosophiegeschichte insgesamt üblich ist. Auch die Geschichte des Naturbegriffes lässt sich in eine antike, mittelalterliche, neuzeitliche und moderne Phase zerlegen. Insofern sich diese Zeiträume kulturell voneinander abgrenzen lassen, können ihnen auch spezifische Naturbegriffe zugeordnet werden.

Alternative Einteilungen ergeben sich durch systematische Fragestellungen, die Naturbegriffe nach ihren Verwendungskontexten vergleichen. So kann man etwa danach fragen, in welcher Beziehung das menschliche Leben zur Natur im Ganzen steht, welche Rolle die unmittelbare Naturerfahrung spielt, welche Bedeutung religiösen Überzeugungen zukommt oder welche Strukturmerkmale für die anorganische Natur behauptet werden.

Schließlich kann man die Pluralität der gegenständlich verstandenen Naturbegriffe durch die Bestimmung ihres Umfangs ordnen. Welcher ist, vereinfacht gesprochen, der Bereich, der mit einem Naturbegriff erfasst bzw. nicht erfasst wird? Eine Position, die sich aus dieser Perspektive ergibt, bezeichnet das Sein im Ganzen – den Kosmos – als Natur. Dieser von den vorsokratischen Naturphilosophen vertretene Naturalismus steht am Anfang der europäischen Philosophiegeschichte und ist in der Moderne für die Naturwissenschaften kennzeichnend geworden. Für viele der nichtnaturalistischen Auffassungen ist es typisch, dass der Bereich des Natürlichen in mehr oder weniger scharfer Abgrenzung einem Bereich des Nichtnatürlichen gegenübergestellt wird. Die auf Aristoteles zurückgehende, wirkungsgeschichtlich überragende Antithese von Natur und Technik kann heute noch als eine der grundlegendsten Bestimmungen angesehen werden. Natur meint dann das nicht vom Menschen Hergestellte, das seinen Ursprung und sein Prinzip der Veränderung in sich hat. Paradigmatisch für dieses Naturverständnis ist die den Menschen in seiner Leiblichkeit einbegreifende organische Natur. Mit dem Beginn der Neuzeit gewinnt die Vorstellung an Einfluss, Technik als Teil von Natur anzusehen und auch die organische Natur nach dem Vorbild der Technik zu denken. René Descartes formuliert eine substantialistische Variante dieser Position, indem er die mit dem Raum gleichgesetzte Natur vom unräumlichen Geist abgrenzt. Es sind vor allem Spielarten der Natur-Geist-Differenz, die der heutige Naturalismus aufzuheben versucht.

Betrachtet man das für das Verhältnis des Menschen zur Natur fundamentale Verhältnis von Natur und Technik, lassen sich für die bisherige Kulturgeschichte zwei Haupttendenzen ausmachen: Die Differenz von Natur und Technik hat sich weiter vergrößert, insofern Naturgegenstände nahezu unverändert geblieben sind (z. B. der Körper des Menschen), während sich technische Gegenstände immer deutlicher von Natur abheben (z. B. Rad, Stadt, Computer). Zugleich hat sich die Differenz aber vermindert, insofern Natur und Technik Hybride bilden (z. B. Kulturlandschaften, Züchtungen), Technik immer perfekter Natur simuliert und sich an Naturvorgängen orientiert (z. B. Bionik). Für die irdischen Verhältnisse lässt sich die weitere Entwicklung der Differenz nur schwer absehen: Technische Kulturen könnten zukünftig alle Natur in Ressource umwandeln, so dass kaum eine ursprüngliche Naturform mehr erhalten bliebe. Sie könnten sich aber alternativ auch in größerem Abstand als heute von einer Natur etablieren, die weniger Gegenstand technischer Eingriffe, für menschliches Leben aber unverzichtbar wäre.

Alle Naturbegriffe mit gegenständlicher Referenz beziehen den Kosmos als Inbegriff des Natürlichen mit ein. Waren die Bestimmungen des Kosmos früher vor allem der Religion vorbehalten, werden sie in der Moderne mehr und mehr zum Gegenstand der empirischen Naturforschung. Deren beste Theorien sagen den Tod des Universums voraus (durch beschleunigte Expansionsbewegung) und weisen dem Menschen eine sein Selbstverständnis herausfordernde Randstellung zu.

Die seit dem Beginn der Neuzeit vielfach vertretene Kritik am Naturbegriff (z. B. Robert Boyle, Jean-Jacques Rousseau) hat bisher in der Moderne an Relevanz gewonnen (Carolyn Merchant, Bill McKibben, Bruno Latour, Donna Haraway, Günther Ropohl und viele andere).

 

Gregor Schiemann

(Zitiervorschlag: Schiemann, Gregor 2012: Natur [Version 1.0]. In: Kirchhoff, Thomas (Redaktion): Naturphilosophische Grundbegriffe. www.naturphilosophie.org.) Copyright beim Autor.

 

Basisliteratur

  1. Gloy, Karen 1995: Das Verständnis der Natur. Band 1: Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens. München, Beck.
  2. Gloy, Karen 1996: Das Verständnis der Natur. Band 2: Die Geschichte des ganzheitlichen Denkens. München, Beck.
  3. Schiemann, Gregor (Hg.) 1996: Was ist Natur? Klassische Texte zur Naturphilosophie. München, dtv.
  4. Seel, Martin 1996: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt/M., Suhrkamp.
  5. Soper, Kate 1995: What is nature? Culture, politics and the non-human. Oxford/Cambridge, Wiley.
  6. Torrance, John (Hg.) 1993: The concept of nature. Oxford, Clarendon Press.

 

Weiterführende Literatur

  1. Barrow, John D. 1993: Die Natur der Natur. Heidelberg, Rowohlt.
  2. Birnbacher, Dieter 2006: Natürlichkeit. Berlin/New York, de Gruyter.
  3. Böhme, Gernot 1992: Natürlich Natur. Über Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt/M., Suhrkamp.
  4. Coates, Peter A. 1998: Nature: Western attitudes since ancient times. Berkeley, University of California Press.
  5. Collingwood, Robin G. 2005: Die Idee der Natur. Frankfurt/M., Suhrkamp.
  6. Hager, F. P., et al. 1984: Natur. [Hager, F. P.: I. Antike: 421–441; Gregory, T.: II. Frühes Mittelalter: 441–447; Maierù, A.: III. Hochmittelalter: 447–455; Stabile, G.: IV: Humanismus und Renaissance: 455–468; Kaulbach, F.: V. Neuzeit: 468–478]. In: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 6. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft: 421–477.
  7. Haraway, Donna 1995: Die Neuerfindung der Natur. Frankfurt/M., Campus.
  8. Landeshauptstadt Stuttgart, Kulturamt (Hg.) 1994: Zum Naturbegriff der Gegenwart. Kongreßdokumentation zum Projekt ’Natur im Kopf’. 2 Bände. Stuttgart/Bad Cannstatt, fromann-holzboog.
  9. McKibben, Bill 1992: Das Ende der Natur. Die globale Umweltkrise bedroht unser Überleben. München, Piper.
  10. Merchant, Carolyn 1987: Der Tod der Natur. Ökologie, Frauen und neuzeitliche Naturwissenschaft. München, Beck.
  11. Merleau-Ponty, Maurice 2000: Die Natur. Aufzeichnungen von Vorlesungen am Collège de France 1956–1960. Herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Dominique Séglard. Aus dem Französischen von Mira Köller. München, Fink.
  12. Moscovici, Serge 1990: Versuch über die menschliche Geschichte der Natur. Frankfurt/M., Suhrkamp.
  13. Picht, Georg 1989: Der Begriff der Natur und seine Geschichte. Stuttgart, Klett-Cotta.
  14. Schäfer, Lothar/Ströker, Elisabeth (Hg.) 1993–1996: Naturauffassungen in Philosophie, Wissenschaft und Technik. 4 Bände [Band I: Antike und Mittelalter. 1993; Band II: Renaissance und frühe Neuzeit. 1994; Band III: Aufklärung und späte Neuzeit. 1995; Band IV: Gegenwart. 1996]. Freiburg/München, Alber.
  15. Schipperges, Heinrich 1978: Natur. In: Brunner, Otto/Conce, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Stuttgart, Klett-Cotta: 215–244.
  16. Whitehead, Alfred North 1990: Der Begriff der Natur. Weinheim, Wiley.