Atom
Der Atombegriff geht auf die antike Naturphilosophie zurück (griech. ἄτομος, „das Unteilbare“). Nach dieser Wortbedeutung sind Atome die kleinsten, unzerlegbaren Bestandteile der Materie. Der antike Atomismus wurde durch Leukipp (5. Jahrh. v. Chr.) und Demokrit (460/459–circa 400/380 v. Chr.) begründet. Danach sind die Atome unveränderlich und absolut undurchdringlich, kommen in sehr unterschiedlichen Gestalten vor und bewegen sich im leeren Raum. Die makroskopischen Körper und ihre wahrnehmbaren Eigenschaften entstehen durch die Zusammensetzung der Atome und deren Einwirkungen auf unsere Sinnesorgane. Diese Auffassung der Atome ging mit zwei philosophischen Lehren einher, deren Wirkungsgeschichte von der Antike über die Neuzeit bis heute reicht: (i) die Unterscheidung von primären und sekundären Qualitäten, nach der die oben genannten Eigenschaften der Atome (Primäreigenschaften) nicht mit den sichtbaren Eigenschaften der Körper (Sekundäreigenschaften) übereinstimmen; und (ii) der Materialismus, nach dem das Weltgeschehen samt des menschlichen Bewusstseins nur durch die Wechselwirkungen der Atome verursacht wird. Aristoteles (384–322 v. Chr.) kritisierte den Atomismus jedoch und vertrat eine Kontinuumstheorie der Materie.
Der antike Atomismus wurde von Epikur (341–271/270 v. Chr.) weiterentwickelt und durch Lukrez (circa 97–circa 55 v. Chr.) überliefert, dessen Lehrgedicht Von der Natur der Dinge in der Renaissance wiederentdeckt wurde. Die Schrift übte größen Einfluss auf die Naturforscher der frühen Neuzeit aus, insbesondere auf Pierre Gassendi (1592–1655). Auch Galileo Galilei (1564–1642) und Isaac Newton (1643–1727) übernahmen den Atomismus, anders als René Descartes (1596–1650), der seine Kontinuumstheorie der Materie jedoch mit einer mechanistischen Korpuskularphilosophie verband.
Im Anschluss an Descartes und Newton wurden die Atome als mechanische Körper im Kleinen betrachtet, d.h. als klassische Teilchen, die den Gesetzen der Newtonschen Physik gehorchen. Newton setzte in den Principia die Existenz der Atome in der Massedefinition seiner Mechanik voraus und schrieb ihnen nach seiner 3. Regel des Philosophierens dieselben Eigenschaften wie den makroskopischen Körpern zu. Im Anhang zu seiner Opticks erörterte er die Wechselwirkungen von Licht und Materie auf der Basis seiner spekulativen Atomtheorie. Die ersten konkreteren Theorien der Atome und ihrer Wechselwirkungen gehen auf Roger J. Boscovich (1711–1787) und Immanuel Kant (1724–1804) zurück; beide entwickelten eine Theorie, nach der die Atome punktförmig sind und abstoßende und anziehende Kräfte haben (Kant 1755, Boscovich 1758).
Ob es Atome gibt, war lange umstritten. Leibniz bestritt die Existenz der Atome mit Argumenten, die von den paradoxen mechanischen Eigenschaften absolut harter Korpuskel bis zum metaphysischen Prinzip der „Identität des Ununterschiedenen“ reichten. Ende des 19. Jahrhunderts griff vor allem der Physiker und Philosoph Ernst Mach (1838–1916) die Atomismus-Kritik auf.
Als die Atome um 1900 zum Gegenstand der Experimentalphysik wurden, stellte sich heraus, dass sie weder unteilbar sind noch sich wie klassische makroskopische Körper verhalten. Nach heutiger Auffassung ist ein Atom der kleinste Bestandteil eines chemischen Elements. Die Atom-, Kern- und Teilchenphysik des 20. Jahrhunderts hat gezeigt, dass Atome eine komplexe innere Struktur besitzen und Quanteneigenschaften haben. Das Versagen der klassischen Physik im subatomaren Bereich gab den Kritikern der antiken bzw. klassischen Atomvorstellung im Nachhinein in gewisser Weise Recht.
Die Streuexperimente im Labor von Ernest Rutherford (1871–1937) zeigten 1911, dass Atome einen extrem kleinen, undurchdringlichen Atomkern besitzen, an dem geladene Teilchen aus radioaktiver Strahlung abprallen können. Rutherfords klassisches Atom, das nach dem Vorbild des Sonnensystems eine Zentralladung besitzt und von Elektronen umkreist ist, wäre nach den Gesetzen der klassischen Elektrodynamik instabil, denn kreisförmig bewegte klassische Ladungen strahlen ihre Energie ab und würden innerhalb von Sekundenbruchteilen in den Atomkern stürzen. Zur Lösung dieses Problems entwickelte Niels Bohr (1885–1962) sein Atommodell von 1913 und die ’ältere’ Quantentheorie, die auf der Basis des Korrespondenzprinzips soweit wie möglich noch mit den klassischen Annahmen arbeitete. Licht und Materie zeigen in den Experimenten der Atomphysik jedoch zugleich Teilchen- und Welleneigenschaften, d.h. sie verursachen je nach Experiment entweder teilchentypische Spuren in der Nebelkammer oder wellentypische Beugungsstreifen hinter einem Doppelspalt. Dieser Welle-Teilchen-Dualismus erforderte schließlich den radikalen Bruch mit der klassischen Physik, den die Quantenmechanik von 1925/26 vollzog (Heisenberg 1930).
Nach der Quantenmechanik haben Atome und subatomare Teilchen keine klassische Raum-Zeit-Bahn, sondern sie werden nach der probabilistischen Deutung von Max Born (1882–1970) durch eine Wellenfunktion Y mit statistischer Bedeutung beschrieben. Die Diskussion um die Bedeutung dieser Wellenfunktion begann mit der Bohr-Einstein-Debatte (Bohr 1927, 1949) und sie ist bis heute nicht abgeschlossen. Schwierigkeiten bereiten dem philosophischen Verständnis vor allem zwei Sachverhalte. (1) Nach der Quantenmechanik hat eine Messung im Allgemeinen kein eindeutig bestimmtes Ergebnis. (2) Atome und subatomare Teilchen können verschränkte Systeme bilden, was heute experimentell mit hoher Genauigkeit und über große Entfernungen nachgewiesen ist.
Was bleibt also von den antiken und neuzeitlichen Vorstellungen über die Atome? Atome gelten weiterhin als die Bestandteile der Materie; doch die ursprüngliche Vorstellung, sie seien unteilbar und absolut undurchdringlich, hat sich als irrig erwiesen. Atome sind komplexe Gebilde aus einer Elektronenhülle und einem Atomkern, der aus Protonen und Neutronen besteht; diese wiederum bestehen aus Quarks und Gluonen. Ihre Bestandteile zeigen Welle-Teilchen-Dualismus und bilden quantenmechanisch verschränkte Systeme. Ein Atom ähnelt eher einer Wattewolke als einer harten Korpuskel, wobei diese ’Wolke’ streng genommen die Wahrscheinlichkeitsdichte der elektrischen Ladungen ist, die sich in einem Streuexperiment nach Rutherfords Vorbild bei einer bestimmten Streuenergie zeigt. Was übrig bleibt, ist aber die Vorstellung, dass makroskopische Körper aus Atomen und ihren Bestandteilen bestehen. Bis hinab zu den Quarks und Gluonen gibt es exakte Summenregeln für die Masse, Ladung, Bindungsenergie und andere dynamische Größen der subatomaren Teilchen und der gebundenen, zusammengesetzten Systeme, die sie bilden. Nach diesen Summenregeln bestehen die Körper aus einer bestimmten Anzahl von Molekülen, Atomen, Elektronen, Protonen und Neutronen; und diese wiederum aus Quarks und deren Wechselwirkungs-Teilchen bzw. -Feldern. Diese Summenregeln – auf denen z.B. die Kernenergie beruht – sind experimentell mit hoher Präzision bestätigt. Irreführend ist es allerdings zu erwarten, bei all diesen Materiebestandeilen handle es sich um Teilchen in einem mechanistischen, klassischen Sinne.
(Zitiervorschlag: Falkenburg, Brigitte 2012: Atom [Version 1.0]. In: Kirchhoff, Thomas (Redaktion): Lexikon naturphilosophischer Grundbegriffe. www.naturphilosophie.org.) Copyright bei der Autorin.
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