Bios und Zoe

„Bios“ stammt vom altgriechischen βíος und bedeutet Leben. Der Begriff wird in der griechischen Antike sowohl komplementär als auch in Abgrenzung zu Zoe (gr. ζωή) verwendet, wobei zoë in der attischen Zeit vorwiegend auf das physische Leben abhebt (vgl. Platon, Phaidon 105 c-d; Aristoteles, De anima), wenngleich es auf metaphysische Prinzipien und Begriffe wie Tod, Seele, Unsterblichkeit, Unendlichkeit und Ewigkeit hin bestimmt wird (vgl. z.B. Aristoteles, Met. 1072b 28; Platon, Timaios 39e-40a). Auch die Götter (bei Platon) bzw. die göttliche Vernunft (bei Aristoteles im XII. Buch der Metaphysik) haben ein mit zoë bezeichnetes Leben, aber wegen ihrer Unsterblichkeit keinen βíος. In der griechischen Naturphilosophie ist die Zoe dem Bios daher allgemein übergeordnet; in spezifischen Verwendungskontexten im Hinblick auf den Menschen, zuvorderst im Platonischen Konzept des Tieres als eines zóon alogon (Lebewesen ohne Logos), wird zoë bíos hingegen untergeordnet. Bíos wird auf verschiedene Weise für das Leben des Menschen verwendet, der aber immer auch ein zóon logon echon bleibt. Die komplexe Begrifflichkeit entsteht durch das Konzept vom Menschen als einem Zwischenwesen, situiert zwischen den Sphären der Immanenz und Transzendenz, dem Irdischen und Göttlichen.

Es ist ein weit verbreiteter Irrtum und zudem anachronistisch, die Begriffe bíos und zoë mit dem Begriffspaar ’subjektives Leben’ und ’objektives Leben’ zu unterlegen und zoë pauschal für das tierisch-körperliche Leben des Menschen im Sinne eines Gattungslebens in Anschlag zu bringen. Diese Zuschreibung beruht meist auf einer isolierten Lektüre der Nikomachischen Ethik des Aristoteles. Jene Dichotomie ergibt allenfalls vor einem neuzeitlichen Hintergrund Sinn, in dem der Körper als Soma von der Seele bzw. Psýche getrennt zu sein scheint (Leib-Seele-Problem) und ein modernes Subjekt sich als frei schwebender Gestalter seines Lebens versteht. Im aristotelischen Phýsis-Denken war dies jedoch nicht der Fall.

In der vorsokratischen Naturphilosophie steht zoë oft noch in Verbindung mit dem Homerischen Begriff des αιων (des Ewigen), so z.B. in Heraklits Vorstellung von der ewigen Lebendigkeit (ἀείζωον, aeízōon) des Feuers als Symbol für eine ordnende Kraft der kosmischen Natur. Heraklits Fragment 48 („Der Name des Bogens ist Leben, sein Tun Tod“, Übersetzung H.-G. Gadamer) verwendet hingegen das griechische bios für ein Wortspiel, weil das Wort je nach Betonung sowohl Leben (bíos) als auch den zu spannenden Bogen (biós) meint. Im Bogen sind die Spanne (Lebensspanne) und das rechte Maß (die Spannung) symbolisiert. Bereits bei Heraklit steht bíos demnach im Zusammenhang mit dem menschlichen Leben, das individuell zum Tode hinstrebt, aber in einer zyklisch verstandenen Natur als Allgemeines (als zoë) ewig fortdauert. Heraklit sagt in seinem Wortspiel auch etwas für die neuzeitliche Problematik aus, das Leben nur ’zwischen’ den Ansätzen des Nominalismus und Realismus verstehen zu können. Ein anderer Vorsokratiker, Demokrit, verwendet bíos bei der Erörterung, wie die ersten Menschen, die jagend und sammelnd gleichsam ein tierisches Leben lebten, sich über die Ausbildung der Sprache gegenseitig als Menschen verstanden. Auch hier kennzeichnet bíos, dass sie von Anfang an als Menschen (d.h. im Hinblick auf eine Idee vom Menschen und vom Menschsein) konzipiert sind und nicht etwa vom Tier zum Menschen evolvieren. Das antike Motiv der Vielheit in der Einheit begleitet – auch in der Differenz vom Menschen als Individuum und Gattung – die Auseinandersetzung um die Begriffe bíos und zoe bis heute. Die Tatsache, dass Demokrit das nahezu tierische Leben der ersten Menschen als bíos statt als zoe beschreibt, erscheint mir für das aristotelische Verständnis wegweisend.

Bei Platon und Aristoteles ist zoë zunächst durch Beseeltheit gekennzeichnet; Tiere und Menschen sind ihrer psycho-physischen Natur entsprechend zoa (Lebewesen), die Pflanzen nehmen bei Aristoteles als sogenannte ’lebende Dinge’ (zonta) eine Sonderstellung ein, weil sie keine Wahrnehmung und damit keine eigentliche Außenwelt haben (vgl. De anima). Bios hingegen meint bei Aristoteles die Lebensweise des durch eine Vernunftseele ausgezeichneten Menschen, sei es als Individuum oder als Gruppe. Die Entgegensetzung von bios und zoë korrespondiert der seit dem 4. Jahrhundert vor Christus sich etablierenden Entgegensetzung von nómos (Gesetz) und phýsis (Natur), die die zwei Hauptbereiche menschlichen Lebens bilden dadurch, dass in ihnen verschiedene und verschieden legitimierte Gesetze als Kräfte walten. Der Begriff bíos wird in seiner normativen Konnotation vor allem in den ethischen und politischen Schriften wichtig, die verhandeln, wie der Mensch als vergesellschaftetes Vernunftwesen sein Leben führen und gestalten soll. Bios verweist im Präfixgebrauch eingedenk der antiken Wortherkunft eigentlich eher auf die Biographie als auf die Biologie. Das Wort Biographie findet sich erst ab dem 6. Jahrhundert nach Christus, wobei die Praxis des lebensrückblickenden Nachrufs am Grab eines Toten schon in das 4. Jahrhundert vor Christus fällt. Die Disziplin Biologie (gegründet um 1800) wäre zutreffender mit „Zoologie“ bezeichnet worden, verdankt sich terminologisch aber einem modernen, naturwissenschaftlich geprägten Vorverständnis von Bios (s.u.).

Der wirkmächtigste Einschnitt fällt in die spätere Stoa, die die griechische Doppelaspektivität von „Leben“ übergreifend als vita latinisierte und mit zusätzlichen Adjektiven spezifizierte. Dies hat das lateinische Mittelalter im Wesentlichen übernommen. Das Leben wurde dadurch zu einem auf Schöpfung statt auf Zeugung hin orientierten Substanzbegriff, der nicht mehr über das aufrechtzuerhaltende Wechselspiel von dýnamis und enérgeia sich selbst eine substantielle Bestimmung gab (gr. bíos) (hierauf weist etwa Hegel noch hin, indem er Leben dezidiert als Idee in seiner Encyclopädie herausstellt), sondern dessen Spezifizität durch zusätzliche Akzidentien vermittelt wurde. Jene akzidentelle ’Zusätzlichkeit’ findet sich etwa im Ausdruck vita beata des Seneca, aber auch im mittelalterlichen Ausdruck anima vitae (Lebensseele) für die aristotelische psýche threptiké, die strebende und sich dabei ernährend verzehrende Pflanzenseele, mit der auch das embryonale Leben des Menschen beginnt. Die Unterscheidung zwischen einem biologischen Beginn des Lebens und einem durch den Menschen selbst gemachten Anfang des Lebens, der sich erst durch die rückgreifend reflektierende Sicht auf die eigene Gebürtlichkeit (Hannah Arendt: Natalität) als ein sich von tierischen Abhängigkeiten befreiender und selbstermächtigender Anfang erweist, wird durch die Latinisierung ebenfalls verdunkelt. Die Möglichkeit der Rückkehr zum Anfang (gr. arché) ist typisch für die griechisch-antike Wortverwendungsweise von bíos und steht im Gegensatz zur Wortverwendung von zoë.

Ferner gilt es in einem naturphilosophischen Zugang die differenzierten Verwendungsweisen von bíos und zoë bei Aristoteles im Hinblick auf seine Auseinandersetzung mit den Vorsokratikern, mit Hippokrates und Platon und deren Begrifflichkeiten für das jeweilige Leben zu reflektieren. Dies kann hier nur kursorisch geleistet werden. Wir können festhalten, dass bíos in denjenigen Verwendungskontexten auftritt, in dem das Leben seiner Möglichkeit nach ein menschliches Leben sein kann (selbst wenn es faktisch noch ein tierisches ist). Das menschliche Leben ist praktisch wie theoretisch dadurch gekennzeichnet, dass es nach einem Guten strebt, was außerhalb seiner selbst liegt. Die Befähigung dazu liegt im Strebevermögen begründet, das sich bereits bei Pflanze und Tier findet und nur für diese beiden Lebensformen als eu zën seine Erfüllung in der Aktualisierung des formal durch die Zoe selbst immer schon als gut Gegebenen hat (vgl. Aristoteles De partibus animalium II 10), wohingegen für den Menschen das eu prattein (das Sich-gut-Gehaben) handelnd hinzukommen muss, um ein gutes Leben zu erreichen (vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik II). Im Vergleich der Nikomachischen Ethik mit den biologischen Schriften und der Metaphysik wird deutlich, dass Aristoteles zoë auf zweifache Weise für den Menschen bestimmt: als zoë kata logon und als zoë kata physin. Die Wortverwendung von bíos sitzt der ersten Bestimmung auf, die für den Menschen die wesentlichere ist und ihn vom Tier bereits auf metaphysischer Ebene unterscheidet, weil er über die Vernunftseele mit der göttlichen Vernunft verbunden ist.

Bios spezifiziert damit die allgemeinere Wortbedeutung von zoë kata logon. Eine entsprechende Stelle findet sich bei Aristoteles z.B. in De generatione animalium (736b 13), wenn der menschliche Embryo, der erst noch zum Menschen werden muss, mit einem gleichsam pflanzlichen Leben (phytou bion) verglichen wird, das im Zustand des Schlafes sei. Weil die Potentialität, Mensch werden zu können, der Aktualität, noch kein Mensch zu sein, vorausgeht, wird das embryonale Leben hier mit bíos benannt. Der Logos geht also der Phýsis voraus. Für das Leben der Pflanze, das durch ihre Seelenform gekennzeichnet ist, wird bei Aristoteles gemeinhin das Wort zoë verwendet, ebenso wie für Tier und Mensch, insofern sie als beseelte Wesen Lebewesen sind und deshalb über formspezifische Potentialitäten verfügen, die sie vom restlichen Bereich der Natur unterscheiden. Die anthropomorphen Beschreibungen in der aristotelischen Biologie machen eine Begriffsdifferenzierung des Lebens für einen exklusiv menschlichen Bereich schwierig. Aristoteles verwendet in De generatione animalium die Begriffe bíos und zoë nahezu gleich häufig und mit einer engen morphologischen Ausrichtung an den biologischen Aussagen Demokrits, der das Leben von Tier und Pflanze stets ausgehend vom Menschen und damit weitgehend anthropomorph beschrieb (vgl. Meyer 2009). In Demokrits Auseinandersetzung mit Hippokrates und dessen Medizin liegt die häufige Wortverwendung von bíos begründet. Es ist zu vermuten, dass der bei Aristoteles auf die Ethik abhebende bíos des Menschen, der als Lebensweise durch das Erreichen des rechten Maßes und die Mitte bestimmbar wird, durch Hippokrates’ Schriften zur Diätetik beeinflusst ist.

Eine berühmte Wortverwendung findet sich in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, die die kontemplative Lebensweise (bios theoretikos) gegenüber der praktischen Lebensweise (bios praktikos) hervorhebt. Im 20. Jahrhundert wurde diese Gegenüberstellung prominent von Hannah Arendt in ihrem Buch Vita activa aufgegriffen. Ein Grundproblem ist, dass das lateinische vita begrifflich nicht mehr zwischen bios und zoë zu trennen erlaubt und „Leben“ daher sowohl in der Perspektive der Ersten wie der Dritten Person mit vermeintlichem Bezug auf dieselbe Begriffsintension und -extension beschreibbar wird. Ein wichtiges argumentatives Mittelglied für jene Vereinheitlichungstendenz war die christliche Hervorhebung des Körpers, der immer auch die tierischen Anteile im Menschen umfasste und auch im Jenseits als schmerzempfindlich konzipiert wurde (Idee der Höllenqualen). Der Körper bekam, auch durch die Lehre der Auferstehung, eine im Vergleich zum griechischen Denken neue Bedeutung: für die Idee der Ewigkeit, die über die der Unsterblichkeit weit hinaus geht. Überspitzt formuliert findet sich im lateinischen Begriff der vita sowohl eine Sakralisierungs- als auch eine Zoologisierungstendenz ’des Lebens’. Die auf die Erhaltung des demokratischen Gemeinwesens gerichtete, gute und richtige Lebensweise (bíos) tritt dabei zumindest im lateinischen Mittelalter in den Hintergrund. Die neuzeitlichen Naturrechtsdebatten (u.a. bei John Locke) verweisen in Folge immer wieder auf das vollumfängliche Recht am eigenen Körper.

Die Perspektive der Dritten Person führt in die moderne Tendenz, ’das Leben’ als Begriff zu fassen und naturwissenschaftlich, d.h. biologisch-organismisch verstehen zu wollen. Hinter der philosophischen Frage, ob „Leben“ überhaupt auf einen Begriff gebracht werden kann, verbergen sich zahlreiche Problemstellungen der Philosophie der Biologie, aber auch der Politischen Philosophie. Hannah Arendt machte auf das die Philosophiegeschichte durchziehende Problem aufmerksam, dass Ewigkeit und Unsterblichkeit nicht dasselbe meinen – hier geht es um die Frage, was auf welche Weise vom Leben nach dem Tod übrig bleibt (z.B. die Seele, die Ideen, die Taten, die Werke etc.). Der Bereich der Ideen, Werke und Taten, der im antiken Begriff des bíos aufschien und auf die Ewigkeit gerichtet war, wird durch die Transformation in das lateinische vita nicht mehr abgrenzbar vom ’zoologischen’ Leben, dessen Sterblichkeit dadurch gekennzeichnet war, dass die Seele den Körper verließ. Jene Sicht ist auch im 21. Jahrhundert noch lebensweltlich dominant. Mit Hannah Arendt weiterführend argumentiert, zeigen die Menschen der Konsumgesellschaften des 20. Jahrhunderts eher den Wunsch, unsterblich zu sein, denn etwas Ewiges, das Bestand hat, zu hinterlassen. Der immer wieder auszutarierenden Verhältnisbestimmung von Technik und Moderne kommt dabei eine Schlüsselstellung zu. Die modernen Bio- und Medizintechniken widmen sich mit den Bemühungen um Lebensverlängerung und human enhancement daher eher einer Regulierung des ’zoologischen’ Lebens, das letztlich keinen Bestand haben wird, anstatt auf die Frage nach dem guten Leben und der geschichtlichen Frage, was bleiben soll, abzuzielen.

Der Kern dieser Kritik findet sich auch im Foucaultschen Konzept der Bio-Macht, das aus einer ’Körperpolitik’ heraus wissenschaftshistorisch entwickelt wird. Mit ähnlicher Stoßrichtung gegen eine Herrschaftsperspektive auf das Leben, aber mit einer starken Kritik an der aristotelischen Differenz von bíos und zoë und ohne wissenschaftshistorische Erörterungen, verurteilt Giorgio Agamben in Homo sacer (1995/2002) die aus dem römischen Recht stammende Idee eines „nackten Lebens“ (lat. nuda vita), das den Menschen gleichsam zum durch einen Souverän beherrschbaren Tier mache. Aristoteles habe dafür den Grundstein gelegt, weil er das „natürliche Leben“ (zoë) aus der pólis ausgeschlossen und in den Bereich des oikos ausgelagert habe. Offensichtlich wird hier das Konzept der Natürlichkeit des Lebens nicht im griechischen, d.h. übergreifenden Sinne verstanden, der phýsis und téchne umfasste und sie nicht etwa als sich ausschließende Gegensätze begriff. Dabei wird von Agamben ferner u.a. verkannt, dass das menschentypische Kriterium der Nacktheit (genauer: Unbehaartheit) auf Platon (nicht auf Aristoteles) zurück geht und in Platons Protagoras nicht ohne Grund parallel mit dem Rechtsempfinden des Menschen (gr. díke) eingeführt wird. Es geht dem attischen Denken also nicht etwa um anthropologische Bestimmungen des Menschen, sondern um zu reflektierende Möglichkeiten, auf welche Weise man zu einem Menschen im guten Sinne werden kann. Die Idee einer Anthropologie ist der Antike noch fremd. Ferner ist bedeutsam, dass Aristoteles in seinen verschiedenen Verwendungsweisen die Wörter bíos und zoë topisch und nicht kategorial verwendet. Es geht ihm im jeweiligen Zusammenhang – sei es im politischen, ethischen, metaphysischen, psychologischen oder biologischen – um mögliche Differenzierungen, aber nicht um ausgrenzende oder einschließende Differenzen als solche. Dieses Missverständnis zeigt sich in der Agambenschen Lesart der aristotelischen Rede vom Menschen als zóon politikòn (Nikomachische Ethik 1253a 4), die unterstellt, dass „politisch“ eine spezifische Differenz zur Bestimmung der Gattung Tier ausmache. Der Mensch wäre dann nichts anderes als ein besonderes Tier – was einem modernen biologischen wie einem mittelalterlich-scholastischen Verständnis gleichkommt, nicht aber einem aristotelischen Verständnis, das in dynamischen Möglichkeiten statt in statischen Wesenheiten denkt. Es war Hannah Arendt, die in Vita activa darauf aufmerksam machte, dass das Politische des Menschen durch die Menschen selbst handelnd errungen werden muss und nicht etwa durch die Sprache immer schon gegeben sei. Die eigentliche Bedrohung liege in der Reduzierung des Menschen auf den arbeitenden Körper (als animal laborans), der den Menschen zum verfügbaren Arbeitstier mache. Für Agamben hingegen liegt in dem Eintreten der zoë in die pólis (und damit in den vermeintlichen Herrschaftsbereich des bíos) die „Politisierung des nackten Körpers“ begründet, die das „entscheidende Ereignis der Moderne“ markiere (Agamben 2002: 14). Denn die nur noch über ihren Körper definierten Menschen bewegten sich in zunehmendem Maße in rechtsfreien Räumen, die durch Herrschaftsstrukturen kontrolliert und überwacht würden und in denen das Individuum nicht politisch handeln könne. Agamben nutzt hier die Doppelbedeutung von (lat.) sacer als „heilig“ und „gebannt“ (im Sinne von „vogelfrei“). Foucault verband die Herrschaft der Bio-Macht mit der Abkehr vom Territorialstaat und der Hinwendung zum Bevölkerungsstaat und dem neuen, auch demographisch zugerichteten Verständnis des Menschen als Teil eines Volkskörpers. Bei Foucault, besonders aber bei Agamben, zeigt sich die Abwesenheit eines differenzierten Technikbegriffs. Denn die angeblich getrennten Sphären von pólis und oíkos werden durch den vielgestaltigen Begriff der téchne bei Aristoteles immer wieder miteinander verbunden – auch als Kunst. So ist etwa der Handwerker beiden Sphären zugehörig, was Hannah Arendt in Vita activa konsequenterweise zur Gegenüberstellung von homo faber und animal laborans veranlasst.

Die entscheidende Stelle, an der Aristoteles bíos und zoë nachbarschaftlich verwendet, findet sich in der Politik (1278b 23-30): Im Leben (zoë) an sich allein liege schon ein Teil des Guten, aber die Beschwerlichkeiten des Lebens (bíos) führten dazu, dass Menschen in ihrem Verlangen nach Leben (zoë) bereit seien, Not zu ertragen, als gäbe es in diesem ein gewisses Glücksgefühl (euphemería), gleichsam von Tag zu Tag. Gerade an dieser Stelle wird sowohl die aristotelische Unterscheidung von Individuum und Gattung Mensch deutlich, die sich nicht in einem Lebensbegriff gegeneinander aufheben lässt, als auch die Idee von Glück, das sich erst jenseits der täglichen Verrichtungen als Kontinuum im Leben einstellt. Begründet liegt diese Idee in der platonischen Vorstellung vom Mangel als Individuationsprinzip, das durch die Sorge immer wieder überformt wird (an dieser Vorstellung setzt im 20. Jahrhundert v.a. Martin Heidegger an). Ferner wird hier bereits der Mittelbegriff der Existenz (und Existenzsicherung) in ihrem Ringen um Subsistenz und Autarkie vorbereitet, auf den Hannah Arendt in ihrer Auseinandersetzung mit einem vielfältigen Leben ’in Arbeit’ eingehen wird. Der sich in der Moderne politisch auswirkende Vorrang des biologischen vor dem politischen Leben findet sich daher in erster Linie über die Kategorien Arbeit, Körper und Eigentum sowie die Idee der Bevölkerung und der Masse vermittelt, und nicht, wie Agamben insinuiert, über eine aristotelische Spaltung der Existenz in Menschsein und Zugehörigsein. Die Arendtsche Begrifflichkeit entspricht den zentralen Begriffen in den Debatten um das neuzeitliche Naturrecht.

Eine neuzeitliche Wortverwendungspraxis von Bios bezieht sich auf die verschiedenen Arten von „Welt“. Bios meint dann die belebte Welt als Teil des Kosmos, wobei sich der Kosmos seit der Antike durch metaphysische Ordnungsprinzipien im Vergleich zum Chaos auszeichnete. Jener belebte Bereich der Welt (Bios) fällt dann namentlich als Gegenstandsbereich in die Disziplin der Biologie. In dieser Tradition der Weltenlehren stehen die modernen Begriffe „Biosphäre“ und „Biotop“, die, anders als etwa der Begriff „Habitat“, den Lebensraum und Lebensort nicht exklusiv im Hinblick auf eine bestimmte Lebensform oder Spezies beschränken. Hingegen verweist der Begriff „Umwelt“ auf die aristotelische Vorstellung vom zóon (und damit auf zoë), das als Lebewesen durch eine Grenze gekennzeichnet ist, an der Wahrnehmung und damit auch die dimensionale Zuschreibung von Innen/Außen stattfindet. Entsprechend haben Tiere und Menschen eine Umwelt.

Naturphilosophisch relevant ist die Tatsache, dass es keine eigene Disziplin der Kosmologie mehr gibt, sondern ihre Themen in den verschiedenen Teildisziplinen der modernen Physik (z.B. der Astrophysik, der Teilchenphysik etc.) vor dem Hintergrund des Konzepts „Universum“ (anstatt „Kosmos“) behandelt werden. Durch diese metaphysische Leerstelle ergibt sich von naturwissenschaftlicher Seite die Notwendigkeit, vereinheitlichende Ordnungsprinzipien für das Ganze der empirisch messbaren und beschreibbaren Welt einzuführen. So erklären sich Buchtitel wie „Vom Chaos zum Bios“ (Metzner 2000).

Naturphilosophische Fragestellungen, die sich aus dem modernen Bios-Begriff ergeben, konzentrieren sich z.B. auf den Prozess des Lebens (u.a. als Evolution) im Vergleich zu bestimmten Typisierungen (Organismus) und Einheiten des Prozesses (u.a. Spezies). Auch die moderne Trennung biotisch/abiotisch verweist auf die verschiedenen Prozesse der natürlichen Genese durch Lebewesen (Biota) und Nicht-Lebewesen (Abiota). Sie steht ’quer’ zur historisch älteren, aber mittlerweile eher chemisch verstandenen Trennung organisch/anorganisch. Besonders in der Auseinandersetzung mit dem Konzept der Biodiversität kommt der weitreichende naturphilosophische Einfluss des Begriffs bíos zum Tragen, weil die erfahrene Fülle der Naturformen für die Güte des subjektiven Lebens mit dem objektiven Leben der Spezies, die vom Aussterben bedroht ist, in Bezug gesetzt wird. Die moderne Wissenschaftsphilosophie entkommt daher nicht dem grundlegenden naturphilosophischen Problem, wie das Verhältnis von Ewigkeit und Unsterblichkeit angemessen auszuhandeln ist.

Nicole C. Karafyllis

(Zitiervorschlag: Karafyllis, Nicole C. 2012: Bios und Zoe [Version 1.0]. In: Kirchhoff, Thomas (Redaktion): Naturphilosophische Grundbegriffe. www.naturphilosophie.org.) Copyright bei der Autorin.

 

Basisliteratur

  1. Arendt, Hannah 1960: Vita activa oder Vom tätigen Leben. Kohlhammer, Stuttgart. [Englische Originalausgabe 1958: The Human Condition. Chicago University Press, Chicago].
  2. Aristoteles 1995: Nikomachische Ethik. In: Philosophische Schriften, Bd. 3. Herausgegeben von Eugen Rolfes. Meiner, Hamburg.
  3. Aristoteles 1995: Über die Seele [lat. De anima]. In: Aristoteles: Philosophische Schriften, Bd. 6. Herausgegeben von Eugen Rolfes. Meiner, Hamburg.
  4. Bremmer, Jan N. 1983: The Early Greek Concept of the Soul. Princeton University Press, Princeton.
  5. Frede, Dorothea 1998: Der ’Übermensch’ in der politischen Philosophie des Aristoteles: Zum Verhältnis von bios theoretikos und bios praktikos. Internationale Zeitschrift für Philosophie 7: 259-284.
  6. Herzhoff, Bernhard 1999: Das Erwachen des biologischen Denkens bei den Griechen. In: Wöhrle, Georg (Hg.): Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften in der Antike I: Biologie. Steiner, Stuttgart: 13-49.
  7. Karafyllis, Nicole C. 2001: Biologisch, Natürlich, Nachhaltig. Philosophische Aspekte des Naturzugangs im 21. Jahrhundert. Francke, Tübingen.
  8. Metzner, Helmut 2000: Vom Chaos zum Bios. Gedanken zum Phänomen Leben. Hirzel, Stuttgart.
  9. Platon 1958: Sämtliche Werke. Übersetzt von Friedrich D. E. Schleiermacher. Rowohlt, Reinbek.
  10. Weiß, Martin G. (Hg.) 2009: Bios und Zoe. Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Suhrkamp, Frankfurt/M.

Weiterführende Literatur

  1. Agamben, Giorgio 2002: Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben. Suhrkamp, Frankfurt/M. [Italienische Originalausgabe 1995: Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita].
  2. Althoff, Jochen/Föllinger, Sabine/Wöhrle, Georg (Hg.) 2009: Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption, Bd. XIX. Wissenschaftsverlag Trier, Trier.
  3. Aristoteles 1965: De generatione animalium. Herausgegeben von H. J. Drossaart Lulofs. Oxford University Press, Oxford.
  4. Aristoteles 1995: Politik. In: Philosophische Schriften, Bd. 4. Herausgegeben von Eugen Rolfes. Meiner, Hamburg.
  5. Aristoteles 2007: Über die Teile der Lebewesen [lat. De partibus animalium]. Übersetzt von Wolfgang Kullmann. Akademie, Berlin.
  6. Brodersen, Kai/Zimmermann, Bernhard (Hg.) 2006: Metzler Lexikon Antike. 2. Auflage. Metzler, Stuttgart.
  7. Finck, Florian 2007: Platons Begründung der Seele im absoluten Denken. De Gruyter, Berlin.
  8. Frede, Dorothea 2010: Life and its Limitations: the conception of happiness in the Philebus. In: Dillon, J./Brisson, L. (Hg.): Plato’s Philebus. Selected Papers from the 8th Symposium Platonicum. Sankt Augustin: 3-16.
  9. Gadamer, Hans-Georg 1999: Der Anfang des Wissens. Reclam, Stuttgart.
  10. Karafyllis, Nicole C. 2013: Lebensphilosophie. In: Grunwald, Armin (Hg.): Handbuch Technikethik. Metzler, Stuttgart [im Druck].
  11. Klein, Hans-Dieter (Hg.) 2005: Der Begriff der Seele in der Philosophiegeschichte. Würzburg, Königshausen & Neumann.
  12. Kullmann, Wolfgang 1980: Der Mensch als politisches Lebewesen bei Aristoteles. Hermes 108: 419-443.
  13. Meyer, Martin F. 2009: Demokrit als Biologe. In: Althoff, Jochen/Föllinger, Sabine/Wöhrle, Georg (Hg.) 2009: Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption, Bd. XIX. Wissenschaftsverlag Trier, Trier: 31-45.
  14. Snell, Bruno 2007: Heraklit. Fragmente. 14. Auflage. Artemis & Winkler, Zürich.