Seele

„Seele“ (gr. psyché, lat. anima, ind. atman, arab. nafs) ist ein klassischer Begriff der Naturphilosophie, der über die Jahrhunderte zahlreiche Wandlungen durchlaufen und auch in nicht-westlichen Naturphilosophien eine prominente Bedeutung behalten hat. Das Konzept der Seele verbindet die Naturphilosophie einerseits mit der Theologie, der Religionswissenschaft und den mystischen Traditionen, andererseits mit der Psychologie, der Medizin und der Biologie. In den zahlreichen Wortbedeutungen hat die Seele die Konnotationen des Flüchtigen, Fluiden und Unsichtbaren, das für eine wesentliche Einheit und/oder Ganzheit sorgt.

In der vorsokratischen Philosophie (u.a. bei Thales) wurde die Seele als dasjenige Prinzip der Natur verstanden, das ihre ’Bewegtheit’ garantiert. Entsprechend konnten einzelne Elemente, aber auch die kosmische Welt eine Seele haben (Weltseele). Durch die Philosophie des Aristoteles wurde die Seele zum einheitsstiftenden Prinzip der lebenden Natur, das Pflanzen, Tiere und Menschen als Lebewesen verbindet. Die drei Seelenprinzipien der Pflanzen-, Tier- und Menschenseele führten zu einer Naturontologie, die die drei Lebensformen Pflanze, Tier und Mensch stufenartig ordnet und im Hinblick auf die übergeordnete göttliche Vernunft mit einer Richtung versieht. Diese Tradition der Naturontologie wie auch der kompositorischen Verfasstheit der Menschenseele wurde – unter Hinzunahme frühchristlicher, neuplatonischer und stoizistischer Begriffsdifferenzierungen wie z.B. den Begriffen anima und pneuma – seit dem lateinischen Mittelalter (u.a. Albertus Magnus, Thomas von Aquin) bis in die Neuzeit fortgeführt. Auch die arabische Philosophie des Mittelalters (u.a. Averroes) übernimmt die aristotelische Seelenkonzeption. In einer theologischen Perspektive sind vor allem die Fragen nach der Abtrennbarkeit und Unsterblichkeit der Seele und der Möglichkeit der Wiedergeburt und Seelenwanderung zentral.

Im Zuge der Fortschritte der Naturwissenschaften wurde die Seele zunehmend als unkörperliches Medium im expliziten Gegensatz zum empirisch beschreibbaren Körper begriffen, behält aber in der Naturphilosophie des Deutschen Idealismus (u.a. F. W. J. Schelling, J. W. v. Goethe) sowie im englischen und französischen Sensualismus ihre zentrale Funktion eines einheitsstiftenden Prinzips. Bei Aristoteles noch als allgemeines Formprinzip der lebenden Natur gedacht, wird die Seele seit dem Hochmittelalter zunehmend als Individuationsprinzip verstanden und hat entsprechend wegweisende Bedeutung für die Konzepte „Individuum“ und „Person“. Im Bereich der Menschenseele führt diese Individualisierungs- und Verinnerlichungstendenz über die lateinischen Begriffe des spiritus, des intellectus und der ratio zur Entwicklung des neuzeitlichen Geistbegriffs bis hin zur modernen Subjektphilosophie. Vor allem seit der Neuzeit stehen die Seelekonzepte im Zeichen der Auseinandersetzung zwischen Monismus und Dualismus (z.B. Leib-Seele-Problem, Gehirn-Geist-Problem).

Parallel zum fortschreitenden Materialismus und Positivismus im 19. Jahrhundert verlor das Konzept der Seele für die Naturphilosophie, die sich mehr und mehr zur Naturwissenschaftsphilosophie transformierte, vordergründig an Bedeutung. Eine Folge war die Gründung der Disziplin Psychologie. Gerade die Biowissenschaften bleiben aber in ihren ontologischen Fundamenten, z.B. der Abgrenzung der biologischen Reiche Pflanze, Tier und Mensch, hintergründig durch das aristotelische Seelekonzept strukturiert. Die phänomenologische Bewegung seit Beginn des 20. Jahrhunderts versucht, ausgehend von Edmund Husserl und seinen Schülern wie u.a. Maurice Merleau-Ponty, mit dem Konzept des Leibes im Gegensatz zum Körper einen neuen Vorstoß, die einsmachende und wesensstiftende Funktion der Seele an zeitgenössische anthropologische, natur- und wissenschaftsphilosophische Debatten anschlussfähig zu machen. Zwei weitere, sich bis heute manifestierende Strömungen ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert, die am Konzept der Seele im Sinne eines Immanenzprinzips festhalten, waren die Lebensphilosophie und die Anthroposophie. In der Biologie zeigt sich das Seelekonzept im 20. Jahrhundert in der Strömung des Neo-Vitalismus.

Nicole C. Karafyllis

(Zitiervorschlag: Karafyllis, Nicole C. 2012: Seele [Version 1.0]. In: Kirchhoff, Thomas (Redaktion): Naturphilosophische Grundbegriffe. www.naturphilosophie.org). Copyright bei der Autorin.

Basisliteratur

  1. Aristoteles 1995: Über die Seele. In: Aristoteles: Philosophische Schriften, Bd. 6. Meiner, Hamburg.
  2. Beckermann, Ansgar 2011: Das Leib-Seele-Problem. UTB, Heidelberg.
  3. Jüttemann, Gerd (Hg.) 1991: Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. VCH Acta humaniora, Weinheim.
  4. Nussbaum, Martha/Oksenberg Rorty, Amélie (Hg.) 1997: Essays on Aristotle’s De anima. Clarendon Press, Oxford.

 

Weiterführende Literatur

  1. Albert der Große (Albertus Magnus) 2006: Über die Natur und den Ursprung der Seele. Herder, München.
  2. Angehrn, Emil/Küchenhoff, Joachim (Hg.) 2009: Die Vermessung der Seele. Konzepte des Selbst in Philosophie und Psychoanalyse. Velbrück, Weilerswist.
  3. Bremmer, Jan N. 1983: The early Greek Concept of the Soul. Princeton University Press, Princeton.
  4. Finck, Florian 2007: Platons Begründung der Seele im absoluten Denken. De Gruyter, Berlin.
  5. Galimberti, Umberto 2005: Die Seele. Eine Kulturgeschichte der Innerlichkeit. Turia+Kant, Wien.
  6. Hellmeier, Paul Dominikus 2011: Anima et intellectus. Albertus Magnus und Thomas von Aquin über Seele und Intellekt des Menschen. 2. Auflage. Aschendorff, Münster
  7. Klein, Hans-Dieter (Hg.) 2005: Der Begriff der Seele in der Philosophiegeschichte. Königshausen & Neumann, Würzburg.
  8. Hagner, Michael 2000: Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn. Fischer, Frankfurt/M.
  9. Ingensiep, Hans-Werner 2001: Geschichte der Pflanzenseele. Kröner , Stuttgart.
  10. Karafyllis, Nicole C. 2013: Lebensphilosophie. In: Grunwald, Armin (Hg.): Handbuch Technikethik. Metzler, Stuttgart [im Druck].
  11. Meyer, Olaf 2010. Leib-Seele-Problem und Medizin. Ein Beitrag anhand des frühen 20. Jahrhunderts. Königshausen & Neumann, Würzburg.
  12. Wright, John P./Potter, Paul (Hg.) 2000: Psyche and Soma. Physicians and metaphysicians on the mind-body problem from Antiquity to Enlightenment. Clarendon Press, Oxford.