Wildnis
Eine Wildnis ist eine Gegend immer dann, wenn wir ihr – bewusst oder unbewusst – die symbolische Bedeutung einer Gegenwelt zur kulturellen bzw. zivilisatorischen Ordnung zuweisen und dabei ihre Unbeherrschtheit betonen. Nicht die empirische Tatsache, dass ein Gebiet mehr oder weniger frei von Einflüssen des Menschen ist oder erscheint, macht es zu einer Wildnis, sondern dass es als Gegenwelt zur kulturellen bzw. zivilisatorischen Ordnung empfunden wird. Dafür genügt es, dass das Gebiet zumindest in einer für den Betrachter relevanten Hinsicht nicht vom Menschen gemacht oder beherrscht ist oder zumindest erscheint.
Welche spezielle symbolische Bedeutung Wildnis hat, hängt ab vom Menschbild bzw. Gesellschaftsideal und dem jeweils für dieses charakteristischen Begriff von Freiheit, Vernunft bzw. Ordnung. Wildnis hat deshalb eine Vielzahl von Bedeutungen, die sich teilweise widersprechen. Sie ist positiv bewertete Gegenwelt, wenn das komplementäre Prinzip kultureller bzw. zivilisatorischer Ordnung negativ bewertet wird, negativ bewertete Gegenwelt, wenn dieses positiv bewertet wird.
Das gesamte Mittelalter hindurch galt Wildnis, vor allem Waldwildnis, als Ort des Bösen, den man meiden sollte. Heutzutage hat Wildnis vor allem positive Bedeutungen, die sukzessive seit Beginn der Neuzeit entstanden sind. Am verbreitetsten sind wohl die folgenden:
(1) Wildnis symbolisiert die Utopie einer ursprünglichen, vollkommenen Ordnung, die vom Menschen zerstört worden ist, sodass der Mensch nun – entfremdet von äußerer und seiner eigenen, inneren Natur – lebt. Wildnis steht für Freiheit von zivilisatorischer Entfremdung und Perversion, für emotionale Nähe zu einem paradiesischen Urzustand, für die Sehnsucht nach einer natürlichen Ordnung. Diese ursprüngliche natürliche Ordnung wurde im Laufe der Kulturgeschichte der Wildnis unterschiedlich bestimmt:
(a) In der Physikotheologie war sie die von Gott geschaffene, harmonische, durch und durch zweckmäßige Ordnung, die wegen ihrer Komplexität für den menschlichen Verstand nicht erkennbar, aber vom Menschen ästhetisch-intuitiv erfasst werden könne, wenn er Natur kontemplativ ohne Nutzungs- oder Erkenntnisinteressen betrachtet;
(b) in der Aufklärungskritik, etwa bei Rousseau, ist Wildnis der moralisch gute Naturzustand, in dem die ’edlen Wilden’ in Harmonie miteinander und mit der Natur leben, weil sie sich noch an sich selbst orientieren statt an zivilisatorischen Äußerlichkeiten und Scheinbedürfnissen;
(c) in ökologischen Weltbilder ist Wildnis eine Gegend mit ursprünglichem, intakten Naturhaushalt bzw. ursprünglichen intakten, gesunden Ökosystemen, die sich selbst regulieren und durch geschlossene Stoffkreisläufe dauerhaft selbst erhalten – und in deren Ordnung der Mensch sich hätte einfügen müssen statt sie zu zerstören, um kurzfristigen Nutzen zu erzielen.
(2) Wildnis ist Ort symbolischer (und realer) Freiheit von kultureller bzw. zivilisatorischer Ordnung. Wildnis fasziniert als Ort der Entlastung vom Druck der Zivilisation entweder
(a) aufgrund einer Sehnsucht nach ursprünglicher, unreglementierter, individueller Aktivität, nach ’Ungezähmtheit’, nach Entlastung von den Konventionen, Regeln, Verboten usw. des – meist prinzipiell akzeptierten – zivilisierten Lebens, aus dem man vorübergehend heraustreten möchte, oder
(b) als Gegenwelt zur traditionellen Kulturlandschaft, weil man das mit dieser assoziierte (konservative) Wertesystem grundsätzlich ablehnt, oder
(c) als romantischer Ort, an dem man sich frei fühlt von einer an Technik und Rationalität orientierten Gesellschaft.
Thomas Kirchhoff
(Zitiervorschlag: Kirchhoff, Thomas 2013: Wildnis. [Version 1.4]. In: Kirchhoff, Thomas (Redaktion): Naturphilosophische Grundbegriffe. www.naturphilosophie.org.) Copyright beim Autor.
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