Naturrecht

Mit dem Begriff Naturrecht wird die Idee bezeichnet, dass die Normen des menschlichen Zusammenlebens durch die Natur des Menschen begründet werden können und müssen. Natur bedeutet hierbei „Wesen“. Das heißt: Es geht in keiner Weise um die „Rechte der Natur“ etwa im Sinne moderner ökologischer Ethik (↑ Naturethik). Gleichwohl entsteht die Idee des Naturrechts in der Antike unter der Perspektive der Einheit der Natur (Physis) und der menschengemachten Gesetze (Nomos).

 

Antikes Naturrecht

Schon in der Vorstufe naturrechtlichen Denkens wird von Heraklit formuliert: „Gesundes Denken ist die größte Vollkommenheit, und die Weisheit besteht darin, die Wahrheit zu sagen und zu handeln nach der Physis, auf sie hinhörend“ (Diels 1957: 112). Die Gemeinsamkeit von Physis und Nomos liegt im Logos, der göttlichen Einheit der Weltgesetze, aus der sich die Gesetze der Natur und der ↑ Vernunft, welche die Gesetze der Gemeinschaft aufstellt, speisen.
Die Sophisten begründen dann das Naturrecht mit einer Gegenposition. In einer Phase der griechischen Geschichte, in der sich die antike Demokratie formiert, entstehen die Ideen der Freiheit, der subjektiven moralischen Verantwortung, aber auch der Rechte des Einzelnen sowie der persönlichen Überzeugungskraft. Die Macht des Brauchtums der Stammeskulturen und der Blutrache wird so gebrochen. Es können Gesetze des rechten Tuns und der Rechtssprechung durch die Übereinkunft vernünftig Diskutierender gefunden werden. Platon hat dieses Verfahren in den sokratischen Dialogen überliefert und im „Gastmahl“ solche Zusammenkünfte dokumentiert. Das vernünftige Subjekt erhält gesellschaftliche Geltung gegenüber allem Naturhaften.
Mit dem sophistischen Naturrechtsgedanken wird die nominalistische Linie des Rechtsprinzips begründet, das von den natürlichen Anlagen des Einzelnen – hier noch dessen Vernunft und der Wille, die Wahrheit und das Gerechte zu finden – ausgeht. Ihm steht das platonische Naturrecht gegenüber.

Anknüpfend an Sokrates, der bereits der Idee einer objektiven Gerechtigkeit mehr Raum gegeben hatte, geht Platon von der Existenz absoluter Ideen aus, deren Gehalt in der menschlichen Handlungsweise zu realisieren ist. Durch theoretische Kontemplation kann sich der Einzelne den absoluten Ideen annähern. Das Medium des rechten Tuns, in dem die a priori existierenden Ideen (z. B. des Guten, Wahren und Schönen) in die Tat umgesetzt werden können, ist die ↑ Vernunft. Mit Vernunft gilt es die Triebe (Begierden und Kampfeslust) zu beherrschen. Das rechte Tun folgt aus Selbstbeherrschung, einer vernünftigen Balance zwischen höherer vernünftiger Seelentätigkeit und jenen Begierden.
Bei Aristoteles wird unter der Voraussetzung der vorsokratischen Idee der Einheit allen Seins in der Natur die sophistische einzelne Kraft zur Rechtschaffenheit (in der Überzeugungskraft) mit der platonischen Vorherrschaft des Absoluten verbunden. Es bedarf der im Einzelnen wirkenden natürlichen Formkräfte (Entelechie), um das allgemein Gesetzmäßige apriorischer Ideen wirklich werden zu lassen. Es ergibt sich eine teleologische Weltsicht, in der alles Einzelne mittels seiner Naturanlagen einem Endzweck, der Vollkommenheit seines jeweiligen Seins, zustrebt. Damit das natürliche Streben des Einzelnen beim gemeinschaftlichen Handeln bewertet werden kann, muss es dem Einzelnen zugerechnet werden können. Zurechenbar ist eine Tat, „wenn wir ihrer Herr sind, so dass wir auch anders handeln konnten“ (Welzel 1962: 35); und dies gilt für „alles, was der Gestaltungsmacht der Vernunft unterliegt“ (ebd.). So erhält das vernunftgeleitete Streben Anschluss an das natürliche und der Staat, der aus dem natürlichen Streben nach Gemeinschaft hervorgeht, repräsentiert diese Einheit für alle.
Mit dem platonischen sowie dem aristotelischen Naturrecht wird die Linie des universalienrealistisch begründeten Rechts eröffnet, das dem nominalistischen gegenüber steht. Diese beiden Linien des Denkens bilden in der Scholastik die Pole der Diskussionen über den Gottesbegriff und bleiben bis heute bestimmend; sie werden in der Folgezeit in der Unterscheidung zwischen Empirismus/Liberalismus und Rationalismus/französische Aufklärung bzw. Konservatismus artikuliert oder durch Vermittlungsversuche ausdifferenziert.
In der Stoa wird das platonische/aristotelische Denken verallgemeinert. War bis dahin nach den rechten Gestaltungsgrundsätzen der Polis gefragt worden, so wird nun das Handeln als bestimmt durch die Allvernunft des kosmischen Ganzen begriffen. Bestimmend für das Handeln ist das Schicksal. Allnatur und menschliche Natur sind in Übereinstimmung, wenn naturgemäß gelebt wird. Dieses Leben besteht dann aus einem liebevollen Selbsterhaltungstrieb: Achtsamkeit auf Gesundheit, sinnliche Aufmerksamkeit, Erinnerungsvermögen usw. Ein solches Leben gestaltet sich als Streben nach der Vervollkommnung der eigenen Vernunft und bedeutet den ruhigen Einklang mit sich selbst und dem Kosmos.

 

Christliches Naturrecht

Durch Augustinus wird das Naturrecht christlich begründet. Einerseits bestärkt er – im Geiste Paulus’ – die nominalistische Linie der absoluten Willenfreiheit Gottes und damit die Ansicht, die Menschen seien der Vorbestimmung ausgeliefert; andererseits geht er gemäß der platonischen Tradition von einer Naturordnung aus, die Vernunftordnung ist und dem Menschen Richtlinien für das rechte Tun bietet.
Demgegenüber formuliert in der universalienrealistischen Traditionslinie Thomas von Aquin, für die Folgezeit sehr wirksam, das Naturrecht im Sinne von Aristoteles’ Metaphysik. Das Gute folgt aus dem natürlichen Streben und vernünftigen Wollen, und deren Einheit ist die Vernunft. Vernunftgemäß zu handeln verwirklicht dann Gottes Gesetze und begründet die menschliche Freiheit, die sich durch Bindung konstituiert: durch den Glauben an Jesus Christus verbunden mit der Bindung an jene Gesetze, welche der gnädige Gott den Menschen vorschreibt.
Eine nominalistische Gegenbewegung gibt es im christlichen Naturrecht – ausgehend von Augustinus – bei Johannes Duns Scotus sowie William von Ockham, an den Hobbes anknüpft und damit zu den säkularen Naturrechtslehren überleitet. Auch wenn Gott noch als existent betrachtet wird, so steht doch das Anliegen im Vordergrund, den Umbruch vom Feudalismus und Absolutismus zum Kapitalismus und zur Demokratie in ökonomischen und politischen Theorien zu bewältigen. Die bürgerliche Gesellschaft muss legitimiert werden.

 

Neuzeitliches und modernes Naturrecht

Bei Hobbes wird die natürliche Überzeugungskraft der Vernunft von den Sophisten zum natürlichen Kampfeswillen, der zwar dem Einzelnen zum Überleben nützt, aber zum permanenten Kriegszustand (Naturzustand) führt. Daher gebietet der Verstand, der dem „Naturgesetz der Vernunft“ (Hobbes, Locke sowie auch Rousseau) folgt, alle einzelnen Überlebensrechte an einen totalen Staat abzugeben; der regelt das Leben der Gemeinschaft zum Nutzen aller friedlich. Diese übergeordnete Autorität verdankt ihre Verfügungsgewalt keinem höheren allgemeinen Existenzprinzip, ist nur ein nützliches menschliches Konstrukt. Eine solche Konstruktion leistet der Legitimation Vorschub, transzendente Prinzipien wie jene, die den Absolutismus begründeten, für obsolet zu erklären (ebenso wie seinerzeit in der Antike das Naturrecht der Macht des Mythos und der Gewalt des Brauchtums entgegengestellt wurde). Im nominalistischen Verständnis ist die Existenz solcher universeller Gesetze und Prinzipien ungewiss; sie ist mit menschlichen Mittel nicht beobachtbar. Falls es solche Gesetze gibt, sind sie genauso unerkennbar wie Gottes allmächtiger Wille. Das ist die Basis des Nominalismus, der empiristischen Erkenntnislehre und des Liberalismus: Jedes einzelne Ereignis wird zunächst als beliebig auftretend angesehen, und allgemeine Gesetzmäßigkeiten werden aus vielen Beobachtungen solcher (als vergleichbar anmutender) Ereignisse durch einen unvoreingenommenen Verstand induktiv generalisiert. Dem entspricht die liberale Idee der Freiheit des Menschen: Sie bedeutet Beliebigkeit, denn der Kampf aller gegen alle im Naturzustand unterliegt keiner Ordnung.
Im Gefolge wird die Staatsidee demokratisiert – z. B. durch die Konzeption der Gewaltenteilung und des Schutzes des Eigentums bei Locke (Naturzustand). Gleichwohl bleibt es bei der rein formalen Ordnungsfunktion des Staates. „Gleichheit“ bedeutet Chancengleichheit im ökonomischen „Überlebenskampf“, und der Staat überwacht jene Freiheit des Einzelnen gegenüber ihm als Ordnungsmacht, das heißt, er garantiert deren Unantastbarkeit in der Privatsphäre (Gesellschaft) und sorgt für Interessenausgleich zwischen Konkurrenten. Die Gesellschaft ist „pluralistisch“, weil die Garantie der Vielzahl aller Meinungen Voraussetzung für die Verbindung von Beliebigkeit und Gleichheit ist. Die gesellschaftliche Synthesis folgt keiner höheren Vernunft und keinem vorgegebenen universellen Sinnzusammenhang. Das Ganze des Zusammenlebens ergibt sich gerade aus Regeln der Substitution einer solchen übergeordneten transzendenten Legitimation. Das Verhältnis von allgemeiner Regel gegenüber Einzelereignis einerseits bzw. Staat gegenüber Bürger andererseits ist jeweils das der formalen Subsumtion.

Der empiristischen/liberalistischen Linie des Naturrechts gegenüber wird die universalienrealistische, platonische bzw. aristotelische und stoische Tradition im Rationalismus weitergeführt. Dessen Erkenntnistheorie zufolge sind universelle Gesetze und Ideen eine primäre Realität, die in den Einzelereignissen zum Ausdruck gebracht wird. Die Welt ist ein vernünftig geordnetes, im Prinzip durch die menschliche Vernunft erkennbares Ganzes. Es funktioniert – gemäß der cartesischen Variante des Rationalismus – mechanisch, so dass seine einzelnen Elemente dann funktionstüchtig sind und Geltung besitzen, wenn sie dieser strikten Ordnung gehorchen. Bei Rousseau und in der Tradition der französischen Aufklärung wird der Rationalismus ebenso wirksam wie im Konservatismus, der aber auf einer monadologischen/teleologischen Fassung des Rationalismus aufbaut.
Rousseau
steht in der Tradition von Descartes – „nachdem ich mich also meiner selbst versichert habe, beginne ich, mich außer mir umzusehen“ (Rousseau 1931b: 189) – sowie, im christlichen Rahmen, des Protestantismus. (Rousseaus Positionierung sowohl gegen die empiristische/liberale als auch gegen eine teleologische Auslegung des Rationalismus wird in seiner Schrift „Emile“ deutlich; vgl. ebd.: insbesondere 132-142 im ersten und zweiten Buch. Zu seinem subtilen Versuch, sein positives Menschenverständnis im Naturrecht mit der protestantischen Sichtweise der Stellung des Menschen zwischen Freiheit und Gottes Vorsehung in Einklang zu bringen, lohnt es sich, die gleiche Schrift: 182-206/„Glaubensbekenntnis …“ zu beachten; vgl. auch Barth 1960: 153-207).
Ausgangspunkt ist auch bei Rousseau ein Naturzustand des Menschen. Er wurde überwunden, denn in diesem neutralen Zustand ohne gesellschaftliches Bewusstsein bildet sich Arbeitsteilung auf Basis natürlicher Unterschiede aus, und es entsteht „eine Art … von unwillkürlicher Klugheit“ (Rousseau 1931: 89) mit Reflexionsvermögen, aber auch mit asozialen Folgen: „der Verstand erzeugt den Egoismus, die Reflexion stärkt ihn“ (ebd.: 86). Die Reflexion führt nämlich auch das Bewusstsein von Über- und Unterordnung mit sich. Es entstehen Stolz, Habgier, Ehrgeiz, Bosheit, Missgunst, Eitelkeit, Schamgefühl und Neid. Das bedeutet: Gesellschaftliche Missstände wie etwa die Willkürherrschaft im absolutistischen Feudalstaat sind nicht natürlich, sondern Ergebnis fehlgeschlagener menschlicher Organisation des dem Naturzustand entwachsenen Zusammenlebens. Ist dann eine „letzte Stufe der Ungleichheit erreicht“ (ebd.: 96), werden „neue Revolutionen die Regierung völlig auflösen“ (ebd.). Sobald danach die bürgerliche Gesellschaft durch Vertragsabschluss zwischen den Mitgliedern des Volkes konstituiert ist, sieht sich der Mensch „genötigt … seine Vernunft zu Rate zu ziehen“ (Rousseau 1931a: 252), um Gerechtigkeit an die Stelle von Instinkt, Pflicht an die Stelle sinnlicher Antriebe, Recht an die Stelle der Begierde zu setzen (vgl. ebd.: 252 f.). Nur das, was zur „Entartung der Gattung“ (Rousseau 1931: 91) geführt hat, die Reflexion, kann für die Gattung auf einer neuen Stufe jener „Güte, die für den reinen Naturzustand angemessen war“ (ebd.), nämlich nun ganz bewusst der Gleichheit verpflichtet, zum Durchbruch verhelfen: Vernunft. Durch sie wird demokratisches Bewusstsein eine Tugend, denn „die gesellschaftlichen Tugenden hatte der Naturmensch im Keim mitbekommen“ (ebd.: 88). Das Gute im Menschen kann per Vertrag zu einem allgemeinen Apriori vernünftigen gemeinschaftlichen Handelns erhoben werden. Daraus ergibt sich „ein rein bürgerliches Glaubensbekenntnis, dessen Artikel zu bestimmen dem Souverän zukommt, nicht sowohl als religiöse Dogmen, wohl aber als soziale Gesinnung … Ohne irgend jemanden zwingen zu können, jene Artikel zu glauben, kann er jeden aus dem Staat verbannen, der ihn nicht glaubt“ (Rousseau 1931a: 276). Er kann „nötigenfalls sein Leben seiner Pflicht opfern“ (ebd.). Die radikale Konsequenz dieser Lehre zeigte sich während der französischen Revolution im Jakobinismus.
Jener Souverän ist der volonté géneral: Die Bürger konstituieren gemeinsam ihre Gemeinsamkeit als den Willen aller (volonté de tous), sich diesem Willen als allgemeinem, für sie apriorischen zu unterwerfen. So handelt jeder Einzelne  gleichberechtigt, selbstbestimmt und zugleich allgemeingültig, weil er konstitutiv und funktional auf den generellen Willen bezogen ist. Das metaphysische universalienrealistische Apriori des gesetzmäßigen Weltganzen für jedes Einzelereignis, das durch rationale Spekulation erkannt werden kann, ist säkularisiert zum selbstkonstruierten, gewissermaßen gesellschaftlich-transzendentalen Staatsganzen. Dieses Ganze wird als durch die Bürger mit Vernunft antizipiert angesehen und wird dann der Freiheit eines jeden Einzelnen dienlich durch dessen Unterwerfung unter die Erkenntnis der Notwendigkeit, dieses höhere Ganze anzuerkennen.

Die meisten Varianten der kontinentaleuropäischen Form des Konservatismus werden durch die aristotelische Lesart des christlich-humanistischen Naturrechts (im Sinne von Thomas von Aquin) geprägt; sie ist teleologisch. In der Differenz sowohl zum mechanistischen Rationalismus bzw. zur französischen Aufklärung als auch zum Empirismus bzw. Liberalismus sind die Rechte des Individuums immer in der Weise mit dem Gedanken eines organischen Ganzen der Gesellschaft und des Staates verbunden, wie bei Aristoteles die natürlichen Anlagen des Einzelnen und der Kosmos als ganzer durch das vernunftgeleitete Streben jedes Einzelnen in Übereinstimmung sind. So entwickelt sich das Individuum naturgemäß, wenn es mit Vernunft dem Ganzen Ausdruck verleiht. Freiheit erlangt es, wenn es in diesem Ausdrucksgeschehen seine Besonderheit zur Vollkommenheit entwickelt. Damit gehen die Ideen einer organischen Gesellschaft und des ‛organischen Staates’ einher.

 

Differenzierung der modernen Naturrechtslehren anhand ihres Individualitätsbegriffs

Anhand des Begriffs der Individualität kann die (interne) Differenz zwischen teleologischem und mechanistischem Rationalismus sowie die (externe) Differenz beider zum Empirismus/Liberalismus noch einmal verdeutlicht werden.
Im Außenverhältnis steht dem rationalistischen Naturrechtsverständnis der Liberalismus gegenüber. Dort ist das Individuum strikt getrennt vom Allgemeinen, ist nicht Ausdruck einer höheren Substanz; es steht ihm gegenüber, so dass eine Verbindung mit dem Allgemeinen (z. B. dem Staat) nur durch formale Subsumtion erfolgen kann. Der Zweck dieser Verbindung heißt „Nutzen“, ist nicht auf irgendeine Vollkommenheit ausgerichtet.
Analog gilt für die französische Aufklärung: Die Individuen subsumieren sich formal nach dem Gleichheitsprinzip dem Ganzen, die Differenz zum Liberalismus besteht darin, dass sie das inhaltlich aufgrund eines säkularen Systems der Tugend legitimieren. Der Einzelne ist Teil einer höheren, real existierenden allgemeinen und gesetzmäßigen Ganzheit. Das Ganze ist ein vorgegebener Mechanismus, dessen Funktionen durch die Individuen erfüllt werden. Diese drücken dessen höhere Notwendigkeit aus, und die Freiheit der Individuen besteht in der als Tugend empfundenen Funktionserfüllung im Rahmen dieser von ihnen selbst gewollten Notwendigkeit.
Im Gegensatz zum Liberalismus ist das Ganze im teleologischen Rationalismus mit einem potenziellen Endzweck der Entwicklung der vielen Individuen verbunden, welche dieses höhere Ganze als eine empirische und historische Wirklichkeit zu repräsentieren und hervorzubringen suchen. Das Individuum strebt mittels seiner inneren Anlagen danach, auf besondere Weise jene allgemeinen Prinzipien zu verwirklichen. Individualität bedeutet, dass sich jeder darin bewährt, die vorgegeben Gesetze des Universums (historisch: der Tradition; politisch: des Staates) auf einmalige Weise zum wirklichen Leben zu erwecken und damit zur eigenen Vervollkommnung sowie durch seine Eigenart zur Vollkommenheit des vorgegebenen Ganzen beizutragen: Selbstzweck des Einzelnen und Endzwecke des Ganzen fallen zusammen. Höheres Ganzes und Individuum sind durch ein substanzielles Ausdrucksgeschehen miteinander verbunden. Die Vielfalt der gelungenen Individuierungen führt zur Stabilität und Vollkommenheit des Ganzen. Das Modell hierfür ist die Idee der Monade im Verhältnis zur „prästabilierten Harmonie“ bei Leibniz; es wurde durch Herder in die Geschichtsphilosophie eingeführt. Der damit zwingend gegebene Entwicklungsgedanke ist organologisch und die Basis der Idee des Lebens. Darauf gehen die konservativen Konzeptionen vom „organischen Staat“ zurück. Die Freiheit des Einzelnen ist dann immer nur in der Bindung an und als Ausdruck des übergeordneten Ganzen zu verwirklichen. Fortschritt wird legitimierbar als Weitergabe von Tradition.

Ulrich Eisel

(Zitiervorschlag: Eisel, Ulrich 2012: Naturrecht [Version 1.1]. In: Kirchhoff, Thomas (Redaktion): Naturphilosophische Grundbegriffe. www.naturphilosophie.org.) Copyright beim Autor.

Basisliteratur

  1. Flückiger, Felix  1954: Geschichte des Naturrechtes, Band I: Die Geschichte der europäischen Rechtsidee im Altertum und Frühmittelalter. Zollikon-Zürich, Evangelischer Verlag.
  2. Hobbes, Thomas 1949: Grundzüge der Philosophie, Bd. 2. Zweiter und dritter Teil: Lehre vom Menschen/Lehre vom Bürger. Meiner, Leipzig: daraus 59-130/Kapitel 1-5. Leipzig. (Zuerst 1646).
  3. Kühl, Kristian 1984: Naturrecht. In: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Sp. 609–623.
  4. Locke, John 1966: Über die Regierung. Reinbek, Rowohlt. (Zuerst 1689).
  5. Nonnenmacher, Günther 1989: Die Ordnung der Gesellschaft. Mangel und Herrschaft in der politischen Philosophie der Neuzeit: Hobbes, Locke, Adam Smith, Rousseau. Weinheim, VCH/Acta Humaniora.
  6. Rousseau, Jean-Jacques 1931: Discours über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. („Zweiter Discours“) In: Ders.: Die Krisis der Kultur. Die Werke ausgewählt von Paul Sakmann. Leipzig, Kröner: 75-98. (Zuerst 1755).
  7. Strauss, Leo 1977: Naturrecht und Geschichte. Frankfurt/M., Suhrkamp.
  8. Wolf, Ernst 1960: Naturrecht. In: Galling, Kurt et al. (Hg.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 4. (3. Auflage). Tübingen: Mohr Siebeck: Sp. 1353-1382.

Weiterführende Literatur

  1. Barth, Karl 1960: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte. Zürich, Evangelischer Verlag: daraus 153-207/§ 5 Rousseau.
  2. Diels, Hermann A. 1957: Die Fragmente der Vorsokratiker. Hamburg, Rowohlt.
  3. Habermas, Jürgen 1967: Naturrecht und Revolution. In: Ders. (Hg.): Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien. Neuwied & Berlin, Luchterhand: 52-88.
  4. Hobbes, Thomas 1984: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Herausgegeben und eingeleitet von Iring Fetscher. Frankfurt/M., Suhrkamp. (Zuerst 1651).
  5. Kötzle, Markus 1999: Eigenart durch Eigentum. Die Transformation des christlichen Ideals der Individualität in die liberalistische Idee von Eigentum. München, Technische Universität München. (= Eisel, Ulrich/Trepl, Ludwig (Hg.): Beiträge zur Kulturgeschichte der Natur, Bd. 10).
  6. Mayer-Tasch, Peter C. 1966: John Locke – der Weg zur Freiheit. In: Ders. (Hg.): John Locke – Über die Regierung. Hamburg, rororo: 195-237.
  7. Rousseau, Jean-Jacques 1931a: Der Gesellschaftsvertrag. In: Ders.: Die Krisis der Kultur. Die Werke ausgewählt von Paul Sakmann. Kröner, Leipzig: 245-278. (Zuerst 1755).
  8. Rousseau, Jean-Jacques 1931b: Emile oder: Über die Erziehung. In: Ders.: Die Krisis der Kultur. Die Werke ausgewählt von Paul Sakmann. Kröner, Leipzig: 127-225. (Zuerst 1762).
  9. Spaemann, Robert 1987: Das Natürliche und das Vernünftige. In: Schwemmer, Oswald (Hg.): Über Natur. Philosophische Beiträge zum Naturverständnis. Frankfurt/M., Klostermann: 149-164.
  10. Voigt, Annette 2009: Die Konstruktion der Natur: Ökologische Theorien und politische Philosophien der Vergesellschaftung. Stuttgart, Steiner: daraus 62-133.
  11. Welzel, Hans 1962: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht.