Prozessphilosophie

Als Prozessphilosophie wird eine philosophische Tradition bezeichnet, die hauptsächlich auf die philosophischen Vorarbeiten von Alfred North Whitehead (1861-1947) zurückgreift. Für die Prozessphilosophie ist Werden ursprünglicher als Sein. Die ontologische Struktur der Wirklichkeit wird durch Rekurs auf selbstkreative Fundamentalereignisse gedeutet, die miteinander durch interne Relationen verbunden sind.

Wissenschaftsphilosophisch besteht die wesentliche Rolle der Philosophie für Whitehead in einer ständigen Überprüfung der notwendigen Abstraktionen der Einzelwissenschaften auf der Grundlage der Vielfalt unserer Erfahrungsarten, einschließlich ästhetischer und leiblicher Erlebnisse, common sense, unbewusster Erfahrungszustände sowie künstlerischer und spiritueller Erfahrungen. Anders als die Einzelwissenschaften könne die Philosophie prima facie nichts von dem ausschließen, was die gesamte menschliche Erfahrung umfasst. Demnach beruhe vor allem der klassische Empirismus auf einem verkürzten Verständnis von Erfahrung, weil er im Wesentlichen nur Sinneswahrnehmung und Beobachtung in Betracht zieht bzw. letztlich sogar nur deren objektivierte Formen innerhalb der Forschungsrahmen von Experimenten.

Der Naturbegriff der neuzeitlichen Naturwissenschaften entstand – so die prozessphilosophische Auffassung – als Ergebnis einer binären Spaltung (bifurcation of nature) zwischen den primären Eigenschaften, die den Dingen anhaften und quantitativ messbar seien und die eigentliche Natur der Dinge ausmachen, und den sekundären Eigenschaften, die erst im wahrnehmenden Subjekt als Erfahrungen auftreten. Natur und Erfahrung sind hingegen für Whitehead nicht trennbar. In unserer unmittelbaren Erfahrung sind wir mitten in einer Welt aus Farben, Lauten, Gerüchen, Geschmackqualitäten, aber auch inneren Zuständen, Emotionen, Empfindungen: alles was wahrgenommen wird ist in der Natur.

Whitehead bezeichnet als szientistischen Materialismus jene Auffassung der Natur, die sie auf einen wert-, gefühls- und absichtslosen Stoff als endgültige Tatsache der empirischen Wahrnehmung reduziert und sie als räumlich ausgedehnt und aus bloß externen Relationen bestehend versteht. Dagegen begreift Whitehead Natur als einen kontinuierlich evolvierenden Verlauf, der durch die Hervorbringungstätigkeit von selbst-schöpferischen Vollzügen (actual entities) vorangebracht wird. Die kausale Relation zwischen diesen Vollzügen versteht er nicht im Sinne einer mechanischen deterministischen (externen) Verursachung, sondern in Analogie zum Humeschen Affektionsbegriff als interne Kausalität. So wird Kausalität nach dem Muster der Erfahrung modelliert: Erfahrung im weiteren Sinne steht hier für das Zusammentreffen von passivem Affiziert-Werden und aktiver Selektion sowie Formung der aufgenommenen Einflüsse. Actual entities sind daher für Whitehead Erfahrungsereignisse (occasions of experience), da sie aktiv Wirkfaktoren gewahr werden (Whitehead nennt dieses Gewahrwerden prehension) und in eine neuartige Gestalt bringen. Jede actual entity nimmt somit andere Entitäten als konstitutive Elemente ihres Werdens auf und hat zu ihnen interne Relationen. Qua Erfahrungsereignisse sind actual entities zugleich kausal determiniert und selbstkreativ.

 

Dass es etwas gibt, vielmehr als nichts, ist in prozessphilosophischer Deutung keine Selbstverständlichkeit einer vorausgesetzten permanenten Welt, sondern das Ergebnis einer kontinuierlichen Hervorbringungstätigkeit, die den Verlauf der Natur vorantreibt und reelle wie auch potentielle Möglichkeiten verwirklicht. Während reelle Möglichkeiten bereits in der Vergangenheit aktualisiert wurden und somit auf künftige Aktualisierungen wirksam sind, sind potentielle Möglichkeiten (wie z.B. Universalien) zwar existent aber, solange sie nicht aktualisiert werden, nicht wirklich und daher nur potentiell oder virtuell möglich. Der Übergang von Möglichkeit zur Wirklichkeit bedarf dieser wirksamen kreativen Vollzüge, die ausgehend von vergangenen Einflüssen sich selbst als causa sui gestalten.

Fundamentalereignisse entstehen und vergehen, wiederholen sich nie und verändern sich nie. Sie sind daher auch nicht die kleinsten Bestandteile, in die das Universum geteilt werden könnte. Als Vollzüge sind sie nicht direkt beobachtbar, denn nachdem sie geworden sind, sind sie nicht mehr in ihrem Werden erfahrbar. Während des Werdeprozesses einer actual entity werden Muster und Eigenschaften vergangener Entitäten übernommen und zum Teil so wiederholt, dass eine Zäsur nicht mehr feststellbar ist. Was beobachtet werden kann, sind nicht die Entitäten in ihrem Werden, sondern die verwirklichten Muster und relationalen Gestalten, die durch solche Vollzüge hervorgebracht wurden. Andauernde Strukturen wie Steine, Planeten, Pflanzen und Tiere sind das Ergebnis von unterschiedlichen Modi der relationalen Organisation der Muster, die die Fundamentalereignisse verkörpern, manifestieren und immer wieder reproduzieren.

Whitehead nennt diese komplexen Strukturen nexus oder society, um ihren relationalen und prozessualen Charakter hervorzuheben. Sie lassen sich nach ihrer Organisationsform und Fähigkeit zur Hervorbringung von Neuartigkeit klassifizieren. Während es sich bei einem Nexus um die allgemeinste Form von Verbundenheit handelt, die sich auf die gegenseitige Immanenz aktueller Entitäten ohne gemeinsame Form bezieht, ist eine Gemeinschaft (society) durch ein gemeinsames Formelelement charakterisiert, das von den sie konstituierenden Fundamentalereignissen reproduziert wird; Gemeinschaften weisen daher eine relative Stabilität auf.

Nicht-lebende Strukturen wie Steine werden „corpuscolar“ genannt, denn sie haben keine hierarchische Organisationsstruktur. Sie resultieren aus dem groben Durchschnitt der Auswirkungen ihrer (Mit)Glieder (members) und dauern an gerade durch die Ausblendung aller Einflüsse, die sie aus dem Gleichgewicht bringen würden. Hingegen folgen Lebewesen, die hierarchisch organisiert sind, einer gefährlicheren Stabilisierungsstrategie, indem sie Selbstgestaltung und Neuartigkeit über die Schwelle der gesamten Gemeinschaft jenseits der Durchschnittsregel gelangen lassen. Sie können dank des ständigen metabolischen Austausches mit der Umwelt hohe Komplexität mit Fortbestehen verbinden. In einem Lebewesen werden neuartige Elemente aus dem Umfeld aufgenommen und mit den Erfahrungen aller die Gemeinschaft konstituierenden (Mit)Glieder in Einklang gebracht, so dass die Gemeinschaft selbst Neuartigkeit hervorbringen kann, um sich mit der Neuartigkeit des Umfeldes auseinanderzusetzen. Lebendige Gemeinschaften schaffen es, Inkompatibilitäten in reichhaltige und fruchtbare Kontraste zu verwandeln, indem sie die große Anzahl von Einflüssen aus dem Umfeld in neue originelle Gestalten kanalisieren, statt Inkompatibilitäten bloß zu eliminieren.

Laut Whitehead ist Leben kein Merkmal bestehender Wesen oder Prozesse, sondern es operiert, als wäre es eine katalytische Handlung. Leben lauert in den Fugen einer jeden lebendigen Zelle.

 

Whiteheads Prozessphilosophie zeigt eine komplexe Wirkungsgeschichte. In den USA wurde sie insbesondere theologisch umformuliert und spielt heute noch eine entscheidende Rolle in den Auseinandersetzungen zwischen Evolutionisten und Kreationisten: Während kreationistische Entwürfe eine monistische Ontologie sowie eine universale und transzendente Teleologie zugrunde legen, entwickelt die Prozessphilosophie eine differenzierte und pluralistische Ontologie, in der Finalursächlichkeit als fundamental-ontologische Bedingung vorausgesetzt werden muss, um Wirklichkeit als evolutorischen Prozess zu denken und Lebewesen adäquat zu verstehen. So wird Teleologie im Sinne einer Vielfalt selbstschöpferischer Vollzüge für naturwissenschaftliche Ansätze wieder zugänglich gemacht, ohne Rekurs auf vitalistische oder übernatürliche Erklärungsprinzipien.

Auch für die umweltethische Debatte liefert Whitehead eine originelle Grundlage für einen gradualistischen Biozentrismus einerseits und eine erweiterte Betrachtung von relationalen Werten andererseits. Die These der Gleichursprünglichkeit von Relationalität und Freiheit bietet eine theoretische Grundlage für eine umweltethische Perspektive, in der die Aufmerksamkeit weniger auf Eigenwerte von Naturentitäten als vielmehr auf die konstituierenden Relationen zwischen Menschen und nicht-menschlichen Naturentitäten, -prozessen und -systemen gelenkt wird. Relationen werden in ihrer Komplexität und jenseits einer Reduzierung auf bloße instrumentelle Betrachtungen verstanden.

Auf Whiteheads Zeit- und Lebensverständnis greifen auch Ökologische Ökonomen zurück, indem sie Entropie als unumkehrbaren und zugleich evolutorischen Verlauf bzw. Lebewesen als kreative und wertschöpferische Prozesse deuten.

Barbara Muraca

(Zitiervorschlag: Muraca, Barbara 2013: Prozessphilosophie [Version 1.0]. In: Kirchhoff, Thomas (Redaktion): Naturphilosophische Grundbegriffe. www.naturphilosophie.org.) Copyright bei der Autorin.

Basisliteratur

  1. Hampe, Michael 1998: Alfred North Whitehead. München, Beck.
  2. Lowe, Victor 1985/90: Alfred North Whitehead: the man and his work. Baltimore, Johns Hopkins University Press.
  3. Weber, Michel (Hg.) 2008: Handbook of Whiteheadian process thought. Frankfurt/Lancaster, Ontos.
  4. Whitehead, Alfred North 1920: The concept of nature [CN]. Cambridge, Cambridge University Press.
  5. Whitehead, Alfred North 1967: Science and the modern world [SMW]. New York, Free Press.
  6. Whitehead, Alfred North 1978: Process and reality: an essay in cosmology. Corrected edition [PR]. Edited by David Ray Griffin and Donald W. Sherburne. New York, The Free Press.

Weiterführende Literatur

  1. Birch, Charles/Cobb, John 1981: The liberation of life: from the cell to the community. Cambridge, Cambridge University Press.
  2. Ferré, Frederik 1996: Being and value: toward a constructive postmodern metaphysics. Albany, State University of New York Press.
  3. Griffin, David R. 1988: The reenchantment of science: postmodern proposals. Albany, State University of New York Press.
  4. Hampe, Michael 1990: Die Wahrnehmungen der Organismen. Über die Voraussetzungen einer naturalistischen Theorie der Erfahrung in der Metaphysik Whiteheads. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht.
  5. Hampe, Michael/Maassen, Helmut 1991: Materialien zu Whiteheads ’Prozess und Realität’. Frankfurt/M., Suhrkamp.
  6. Muraca, Barbara 2010: Denken im Grenzgebiet: prozessphilosophische Grundlagen einer Theorie starker Nachhaltigkeit. Freiburg, Alber.
  7. Nobo, Jorge 1986: Whitehead’s metaphysics of extension and solidarity. Albany, State University of New York Press.
  8. Koutroufinis, Spyridon 2007: Prozesse des Lebendigen. Zur Aktualität der Naturphilosophie A.N. Whiteheads. Freiburg, Alber.
  9. Stengers, Isabelle 2002: Penser avec Whitehead. Paris, Vrin.
  10. Whitehead, Alfred North 1925: An enquiry concerning the principles of natural knowledge [PNK]. Cambridge, Cambridge University Press.
  11. Whitehead, Alfred North 1929: The function of reason [FR]. Princeton, Princeton University Press.
  12. Whitehead, Alfred North 1966: Modes of thought [MT]. Chicago, The Free Press.
  13. Whitehead, Alfred North 1967: Adventure of Ideas [AI]. New York, The Free Press.
  14. Whitehead, Alfred North 1985: Symbolism. Its meaning and effect [S]. New York, Fordham University Press.

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