Hermeneutik der Natur / Hermeneutische Naturphilosophie
Ontologisch gesehen setzen die Konzeptionen, die als „Hermeneutik der Natur“ bezeichnet werden können, die Möglichkeit einer einheitlichen Doktrin vom „naturhaften Sein der Kultur“ und „kulturellen Sein der Natur“ voraus (Ginev 1993). Die Idee einer Hermeneutik der Natur hat ihre grundsätzliche und damit naturphilosophisch relevante Bedeutung durch die nicht-analytischen (und von phänomenologischen Traditionen geprägten) wissenschaftstheoretischen Konzeptionen erhalten, die ein verborgenes Potenzial der Naturwissenschaften annehmen, fernab vom epistemologischen Objektivismus einen Dialog mit der Natur zu führen. Die Annahme dieses Potenzials hängt mit den Tendenzen zur Reflexivität bzw. reflexiven Konzipierung der eigenen hermeneutischen Forschungssituationen zusammen: je intensiver diese Tendenzen, desto abgeschwächter wird die dekontextualisierende Objektivierung. Die Reflexion auf die idealisierenden Prozeduren und Bedingungen der Dekontextualisierung schränkt die Gültigkeit des epistemologischen Objektivismus ein und führt zu einer Rekontextualisierung der Untersuchungsgegenstände, die kontextbezogene (und mit Versionen des Prinzips der Komplementarität verbundene) Interpretationen in Gang bringt (Kerszberg 2008; Kerszberg 2009: 156-172). Diese Rekontextualisierung soll zu einer innerwissenschaftlichen dialogischen Einstellung zum Erforschten führen; die Thematisierung der Konstituierung eines Phänomens als Untersuchungsgegenstand durch seine Einbeziehung in diverse Kontexte von Forschungspraktiken soll eine „dialogische Befragung“ des Erforschten ermöglichen. Dieses Verständnis naturwissenschaftlicher Forschung als dialogisch geht auf die frühmoderne hermeneutische Formel vom „Lesen im Buch der Natur“ zurück: Das Buch der Natur ist, so etwa Galilei (1957: 237-38; 1987: 275), in mathematischer Sprache geschrieben, aber es kann nur kraft Experimenten gelesen werden. Schon diese Formel setzt voraus, dass die Phänomene in verschiedenen mathematisch-experimentellen Kontexten „gerettet“ werden können, das heißt, die scheinbaren Unregelmäßigkeiten in den Manifestationen eines Phänomens auf verborgene mathematische Regelmäßigkeiten zurückgeführt werden können. Die „Rettung der Phänomene“ soll das mathematische Wesen der Naturphänomene erschließen.
An dieser Stelle sei eine vorläufige Bemerkung eingeschoben zu Positionen, die die Plausibilität einer Hermeneutik der Natur, die auf einer direkten Anwendung hermeneutischer Methoden auf Natur basiert, bestreiten: Die Naturhermeneutik ist keineswegs mit einer hermeneutischen Wissenschaftstheorie gleichzusetzen. Trotzdem setzt die Erstere notwendigerweise ein elaboriertes Bild von den Interpretationsprozessen innerhalb naturwissenschaftlicher Forschung voraus. Diese These wird auch von Autoren vertreten, die nach einer Erweiterung der philosophischen Hermeneutik Gadamers (1960) auf die Natur streben. Sie gehen von der Angemessenheit der Hermeneutik zur philosophischen Aufklärung der Eigenart naturwissenschaftlicher Forschung und Feststellung der philosophischen Tragweite der Naturhemeneutik aus. Sie insistieren dabei auf der Möglichkeit eines Übergangs von einer „Hermeneutik in den Naturwissenschaften“ zu einer hermeneutischen Auffassung der Natur als integralem Gegenstand der Naturwissenschaften (vgl. dazu Neuser 2004 und, mit Blick auf die Interpretationstendenzen der Natur in der Technologiewissenschaft, Gehring 2011). Es ist eine andere Frage, dass sich Kategorien wie Wildnis als der „von Kultur unberührten Natur“ nicht mit naturwissenschaftlichen Begriffen definieren lassen (Kirchhoff 2011: 80).
Die Hermeneutik der Natur schließt immer zweierlei ein: erstens die Anwendung hermeneutischer Methoden auf die Konstitution und Erforschung naturwissenschaftlicher Untersuchungsgegenstände mit dem Ziel einer hermeneutischen Erfassung und Restauration der Natur als vorausgesetztes, aber durch die kognitive Pluralisierung der Naturwissenschaften verloren gegangenes, integrales Objekt; zweitens die den „Dialog mit der Natur“ in Anspruch nehmende Revision der philosophischen Hermeneutik (vgl. zur Eigenart dieses Dialogs Kroß 2003). Hermeneutik der Natur ist weder auf Ersteres noch auf Letzteres reduzierbar. Sie ist eher ein selbständiges Programm innerhalb des nachmetaphysischen Denkens. Jede Konzeption, die auf eine explizite oder implizite Art und Weise die Möglichkeit einer hermeneutisch-ontologischen Aufklärung der Natur behauptet, ist als Hermeneutik der Natur zu identifizieren, unabhängig davon, ob ihre Vertreter diese Bezeichnung als Selbstbezeichnung benutzen.
Die Ansätze einer Hermeneutik der Natur oder auch hermeneutischen Naturphilosophie sind bei Autoren wie Ernst Bloch, Maurice Merleau-Ponty, Herbert Marcuse, Hermann Schmitz, Donna Haraway, Arne Naess und Gernot Böhme zu finden. Sechs historisch vorliegende und gewissermaßen verflochtene Programmtypen von Naturhermeneutik sind zu nennen, in denen bestimmte Ansätze dieser Auroren systematisch entwickelt werden. Die entsprechenden Grundtypen von Hermeneutik der Natur werden im Folgenden idealtypisch charakterisiert.
(a) Hermeneutik der Natur aufgrund der Leiberfahrung und/oder alltäglichen, vorprädikativen Naturerfahrung. Das leitende Prinzip dieser Hermeneutik wird von Merleau-Ponty (1966: 23) folgendermaßen formuliert: „Die Landschaft denkt selbst in mir“. Die Idee der Selbsterschließung und Expressivität der Natur durch die eigene Leiberfahrung liegt diesem Programm zugrunde. Die Natur demonstriert ihre Autonomie nicht kraft ihrer Isolierbarkeit von den kulturellen Welten, sondern durch die leibliche Existenz des Menschen. Entscheidend für die Interpretation dieser Existenz ist Merleau-Pontys Unterscheidung zwischen dem „naturbezogenen Selbst“ und dem „personalen Selbst“ und seine Auffassung von der „Selbstreflexivität des Leibes“. Die Leiberfahrung liefert auch das Bezugssystem einer Phänomenologie des Naturerlebnisses (Toadvine 2009). Sowohl die Interpretation der Leiberfahrung als auch die genannte Phänomenologie sind von der Idee inspiriert, die Totalität der Natur wiederzugewinnen, die durch die Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnis verloren gegangen ist. Diese Idee ist der Auffassung entgegensetzt, dass es schon auf der Ebene der leiblichen und vorprädikativen Erfahrung eine Vielzahl von interpretativen Zugängen zur Natur gibt, die keine übergeordnete Ganzheit bilden; die Diversifikation von hermeneutischen Herangehensweisen zur Selbsterschließung und Expressivität der Natur schon auf dieser Ebene mache die Suche nach einer einheitlichen Erfahrung von der Totalität der Natur sinnlos (Gloy 2005).
(b) Hermeneutik der Natur als Weiterentwicklung des Programms der „sozialen Naturwissenschaft“. Diese Konzeption entfaltet sich im Zusammenhang mit der Kritik des Naturverständnisses, das vom „Projekt der Moderne“ avanciert wird und auf instrumentelle Naturaneignung zielt. Demgegenüber wird, im Sinne der sozialen Naturwissenschaft, ein Naturverständnis angestrebt, das in der Lage ist, dem spätmodernen Menschen zu zeigen, „was nicht-angeeignete Natur ist“ (Böhme 1985: 137). Dabei wird auf das Programm einer „Phänomenologie der Natur“ zurückgegriffen, die Natur in der Perspektive des Für-uns, insofern wir selbst Natur sind, zum Thema interpretierender Erfahrung macht (Böhme 1997: 41). Damit ist die (hermeneutische) Phänomenologie der Natur, qua interpretierende Erfahrung der Natur, zugleich kritische Selbstinterpretation des Menschen. Aus dieser Perspektive erweist sich die Hermeneutik der Natur als notwendiger Bestandteil der Kritik am neuzeitlichen Humanismus. Der Fokus wird auf die kulturellen Praktiken gelegt, durch die Naturbegriffe organisiert werden, womit gezeigt werden soll: „Nicht die Gesellschaftlichkeit der Naturbegriffe ist das Problem, sondern die Gesellschaftlichkeit der Naturverhältnisse oder, genauer noch, der Natur selbst.“ (Böhme 2005: 10)
Die von diesem Programm der Naturhermeneutik inaugurierte Naturerfahrung stellt eine radikale Alternative zur (mit dem Projekt der Moderne zusammenhängenden) konstruktivistischen Maxime dar, alles Gegebene in etwas Gemachtes zu verwandeln. (Für eine alternative Kritik am Kostruktivismus in naturhermeneutischer Hinsicht vgl. Haraway 2008: 275-284.) Die wichtigste Konsequenz aus der hermeneutischen Kritik am Konstruktivismus liegt in einem neuartigen Begriff menschlicher Verantwortung für den nicht-wünschenswerten (und in eine tiefe Krise geratenen) Naturzustand. Die Verantwortung ist nicht moralisch, sondern hermeneutisch zu verstehen und verlangt eine neue Selbstinterpretation jenseits des neuzeitlichen Humanismus (Böhme 2005: 22).
(c) Hermeneutik der Natur als Fortsetzung von Marcuses (1967: 162-183) Idee einer „anderen Naturwissenschaft“, die eine „erotische Einstellung zur Natur“ (an erotic attitude toward nature) involviert. Dieses Programm wird von zwei Ansichten Marcuses umschrieben. Die erste Ansicht betrifft die in Eros and Civilization (Marcuse 1955) erweiterte (post-freudianische) Interpretation des Begriffs vom Eros. Dieser Interpretation zufolge, ermöglicht der Eros (als Endpunkt der Transformation der Sexualität; oder als „Selbst-Sublimierung der Sexualität“, die einen höheren Grad der zivilisierten menschlichen Verhältnisse kreieren kann) die Entwicklung einer nicht-repressiven sozialen Ordnung (ebd.: 222-237). Im Großen und Ganzen betrachtet Marcuse später (vom Standpunkt seiner kritischen Theorie aus) den Eros als das Antidot der Eindimensionalität spätmoderner menschlicher Existenz. Dem so aufgefassten Eros entspricht eine „erotische Erkenntnis“, die die Gewalt der „bestehenden, kontingenten Wirklichkeit“ durchbricht und nach einer mit ihr unvereinbaren Wahrheit strebt (Marcuse 1967: 143). Die „erotische Einstellung“ zur Suche nach dieser Wahrheit ist gleichzeitig dem epistemischen Objektivismus entgegensetzt. Die zweite Ansicht bezieht sich auf die Interpretation des „technologischen Aprioris“ neuzeitlicher Naturwissenschaft. Die Unterscheidung zwischen der immanenten historischen Dynamik naturwissenschaftlicher Erkenntnis und der technologischen Anwendung dieser Erkenntnis in der gesellschaftlichen Wirklichkeit verwerfend, behauptet Marcuse (in Anlehnung an Heidegger), dass sowohl die epistemische Objektivität als auch die methodische Rationalität der Naturwissenschaften von Anfang an von einem instrumental-technologischen Interesse (und einer ihm entsprechenden Einstellung) determiniert ist. Von diesem Interesse geleitet ermöglicht die kognitive Struktur der mathematisch-experimentellen Wissenschaften eine fortschreitende Naturbeherrschung, die der wirksamer werdenden Herrschaft des Menschen über den Menschen korrespondiert. Im Gegensatz zu Heidegger aber glaubt Marcuse, dass das „technologische Apriori“ (Interesse und Einstellung) zugunsten der erotischen Einstellung zur Natur und des dialogischen Interesses an Natur versetzt werden kann. Ein neues dialogisch-erotisches Apriori würde dann eine „andere“, mit neuer kognitiver Struktur versehene Naturwissenschaft zur Folge haben (Ginev 1992).
Aufgabe von Naturhermeneutik ist gemäß dieser Konzeption die hermeneutische Suche nach der „authentischen Normalität“ der Naturobjekte und -prozesse (Ginev 2010). Diese Normalität kann nie definitiv und nach objektivistischen epistemologischen Kriterien festgestellt und festgelegt werden. Ihre Enthüllung vollzieht sich eher als eine stetige Annährung an die „immanente Existenz der Naturzustände“, die die dialogisch-erotische Einstellung zum Erforschten voraussetzt. Um diese Konzeption verständlich zu machen, muss man zwei Bedeutungen von „Normalität“ unterscheiden. Die sozial-pragmatische Normalität wird relativ zur instrumentell-technologischen Ausnutzung und Ausbeutung von Natur und damit relativ zu menschlichen Bedürfnissen und Interessen bestimmt. Normalität wird definiert gemäß Kriterien instrumenteller Ausnutzbarkeit, und zwar als Ausnutzung, die ein Maß kalkulierbarer „profits and losses“ einhält, beispielsweise als „normaler exploitativer Umgang“ mit einer Biozönose. Die authentische Normalität bezieht sich auf die Existenz von Naturzuständen jenseits jeder menschlichen Pragmatik. Die authentische Normalität jedes Naturzustands, der eine charakterische Normativität seiner Existenz entspricht, ist also zu unterscheiden von der Normalität und Normativität seiner „vernünftigen Ausnutzung“.
Es ist allerdings klar, dass eine metaphysisch gerechtfertigte Trennlinie zwischen beiden Typen von Normalität nicht möglich wäre. Jeder Versuch, die „normale Existenz der Natur an sich“ von der „normalen Ausnutzung der Natur“ in metaphysischen Termini zu demarkieren, ist zum Scheitern verurteilt, da er unweigerlich die metaphysisch unlösbare Frage nach der Demarkation zwischen Natur und Kultur reaktiviert. Eine Unterscheidung der beiden Typen von Normalität aufgrund hermeneutischer Argumente und Kriterien ist jedoch nicht nur möglich, sondern auch erforderlich. Die dieser Aufgabe angemessene Hermeneutik der Natur soll die Bedingungen formulieren, unter denen man entscheiden kann, welche menschlichen Praktiken die „Autonomie der Natur“ respektieren bzw. verletzen (Throop/Vickers 2005). Vom Standpunkt hermeneutischer Phänomenologie ist diese Aufgabe weiter zu konkretisieren: Der Umgang mit Natur wird schon immer durch soziale Praktiken vermittelt. Aus dem Verstricktsein dieses Umgangs in Praktiken ergibt sich die Einstellung zur Natur. Mit anderen Worten, das Verstricktsein in Praktiken bestimmt die hermeneutische Situation (die Vorhabe, die Vorsicht und den Vorgriff) des Umgangs mit der Natur. Je nach dem, wie diese Situation gestaltet ist, kann man Formen des praktischen Umgangs aufweisen, in denen die authentische (und objektivistisch nicht definierbare) Normalität der Naturzustände respektiert wird.
Das Programm dieser Naturhermeneutik wird auch als Alternative zu Bruno Latours (2004) Konzeption einer „Politik der Natur und politischen Ökologie“ entwickelt, in der die These verteidigt wird, dass die „Natur“ ein Ergebnis politischer Aufteilung der Realität sei. Kritisiert wird dabei insbesondere Latours konstruktivistische Auflösung der Möglichkeit einer von den Interessen institutionalisierter Politik autonomen Naturerfahrung (Ginev 2011). Das Plädoyer für eine andere Wissenschaft, die eine emphatische Einstellung zur Natur implizieren kann, findet ein starkes Echo in gewissen Programmen der feminsitischen Wissenschaftstheorie (siehe z.B. die klassische Studie von Keller 1987).
(d) Hermeneutik der Natur als Fortsetzung der hermeneutischen Phänomenologie naturwissenschaftlicher Forschung (Kockelmans 1993; Crease 1995; Ginev 1997; Heelan 1997). Dieses naturhermeneutische Forschungsprogramm geht davon aus, dass sich die epistemische Objektivierung der Natur in den interpretierenden Praxen wissenschaftlicher Forschung vollzieht. Der Dialog mit Natur gilt als schon immer von hermeneutischen Vorstrukturen der Sinnkonstitution vermittelt, der Glaube an ein umittelbares und direktes Verhältnis zur Natur, auch innerhalb der Naturwissenschaften, als eine Illusion. Jede Erfahrung findet im Milieu der Sinnkonstitution statt, was aber nicht besagt, dass die in der Erfahrung erschlossene Natur ein kulturelles Artefakt ist. Naturerfahrung, auch die innerhalb naturwissenschaftlicher Forschung, setzt einen Horizont von Möglichkeiten eines dialogischen Zusammenspiels voraus. Es handelt sich um eine hermeneutische Naturerfahrung, die von einem radikalen Antinaturalismus geprägt wird. Innerhalb naturwissenschaftlicher Forschung kommen die hermeneutischen Vorstrukturen einer dialogischen Einstellung zur Natur vermittels der lesbaren Technologien (readable technologies, Heelan 1997) der Forschungspraxen zur Wirkung. Die Horizonte des primären Naturverständnisses im Rahmen der naturwissenschaftlichen Forschung werden von diesen Praxen/Technologien entworfen. Die Erschließung des „Lesbaren“ (d. h. der Totalität der potenziellen Untersuchungsgegenstände eines Forschungsgebiets) nimmt die Form eines primären innerwissenschaftlichen Naturverständisses an. Diese horizontbezogene Erschließung geht der idealisierenden Objektivierung wissenschaftlicher Forschung auf solche Art und Weise voraus, dass sie den Forschungsprozess vorstrukturiert. Dabei besitzt diese hermeneutische Vorstrukturierung den externen Einflüssen auf diesen Prozess gegenüber einen Vorrang. Die Entfaltung einer Hermeneutik der Natur innerhalb der hermeneutischen Phänomenologie wissenschaftlicher Forschung zielt darauf hin, den Nexus von instrumentell-strategischem Interesse an Beherrschung der Natur und epistemologischem Objektivismus zugunsten eines dialogischen Zusammenspiels mit Natur als Grundlage hermeneutischer Selbstaufklärung der Naturwissenschaften abzuschaffen. Das Programm widersetzt sich zudem der Verabsolutierung des „mathematischen Entwurfs der Natur“, die Heidegger (1984) in seiner existenzialen Auffassung naturwissenschaftlicher Forschung in den Mittelpunkt stellt.
(e) Hermeneutik der Natur innerhalb des Programms der Tiefenökologie von Arne Naess. Hermeneutik der Natur in diesem Sinne ist in erster Linie für die „Ökosophie“ (Naess 1989: 36-38) erforderlich, mit der das von Naess konstatierte normative Defizit der ökologischen Disziplinen überwunden werden soll. Die richtige Interpretation der Natur – so das Argument – ist eine Voraussetzung für die Erschaffung von Normen und Regeln für den Umgang mit der Natur (Naess 2004). Wichtig für das Programm der Tiefenökologie ist es, den eigenen, von menschlichen Interessen unabhängigen Wert eines jeden Lebewesens zu bestimmen. Auch diese Aufgabe fällt in die Kompetenz einer Hermeneutik der Natur. Eine Ausarbeitung dieser hermeneutischen Dimension der Tiefenökologie besteht in der Konzeption menschlicher Solidarität mit den anderen Lebewesen. Bekanntlich nimmt die Tiefenökologie eine Weiterentwicklung der hermeneutisch-ontologischen Kritik Heideggers am anthropozentischen Humanismus in Anspruch, was zahlreiche Fragen nach dem Zusammenhang zwischen tiefenökologischer Hermeneutik und Heideggers „Gelassenheit“ aufwirft (Zimmerman 1993).
(f) Das Programm einer Hermeneutik der Natur, das auf gewissen Tendenzen innerhalb der environmental philosophy beruht. Dieses Programm versucht zusammenhängende Antworten auf die hermeneutische Frage nach demjenigen Verständnis der natürlichen Umwelt zu bieten, das für das zentrale Anliegen mancher Versionen der environmental philosophy, der „Restauration der Natur“, unumgehbar ist. Die Suche nach einer angemessenen Hermeneutik wurde von der provokativen These hervorgerufen, dass die Restauration von Landschaften ein artifizieller Prozess ist (Katz 1992). Obwohl nicht so stark wie im Ökosystemmanagement, ist die ökologische Restauration – so Katzs Argument – wiederum von dem strategischen Interesse geleitet, die Natur zu beherrschen und ausnutzen. (Für eine Kritik an dieser These siehe Vogel 2003.)
Zwei weitere Fragen, die dieses Programm aufgeworfen hat, lauten: Wie ist die natürliche Umwelt, die unabängig von menschlichen Interventionen existiert, zu interpretieren? Ist die scharfe Trennung zwischen Natur und Artefakt haltbar? Die im Rahmen der environmental philosophy entstandene Hermeneutik der Natur lanciert die These, dass es eine ständige Verschmelzung von Horizonten der „Artifizierung der Natur“ und der „Naturalisierung der Artefakte“ gibt. Die Wechselwirkung dieser beiden Prozesse ist zugleich das Thema einer interpretierenden Naturphilosophie, die zwar die alte Grenze zwischen Natur und Kultur nicht vollständig verleugnet, sie jedoch auf eine kontextuell-dynamische Art und Weise immer neu definiert: Die Grenze ist keineswegs ein festgelegtes Faktum, sondern eine unendliche Interpretationsaufgabe. Die unendliche Lösung dieser Aufgabe führt zu einer kontinuierlichen Dekonstruktion der alten Dichotomien, die von der fruchtlosen Naturalismus-Kulturalismus-Auseinandersetzung durchgesetzt worden sind (Vogel 1999). Die Dekonstruktion selbst vollzieht sich innerhalb einer „Naturhermeneutik der Artefakte“.
Laut einer anderen Version der Auffassung des Zusammenspiels von Naturalisierung und Artifizierung geht es nicht um eine Dekonstruktion und ein diversifizierendes Spiel von kontexabhängigen Differenzen, sondern eher um ein Kontinuum zwischen dem „natürlichen Sein des Menschen“ (naturalness) und dem „kulturellen Sein der Natur“ und des Menschen (cultural humanness), in dem man verschiedene Stufen der Artifizierung unterscheiden kann (Woods 2005). Das Anliegen der hermeneutischen Naturphilosophie besteht in diesem Fall darin, die Ausdifferenzierung der Stufen durchzuführen.
Eine weitere Aufgabe in der environmental philosophy ist die Interpretation der „authentischen Natur“ nach dem von McKibben (1989) annoncierten Ende der Natur.
Dimitri Ginev
(Zitiervorschlag: Ginev, Dimitri 2014: Hermeneutik der Natur / Hermeneutische Naturphilosophie [Version 1.0]. In: Kirchhoff, Thomas/Schiemann, Gregor (Redaktion): Naturphilosophische Grundbegriffe. www.naturphilosophie.org.) Copyright beim Autor
Basisliteratur
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- Vogel, Steven 2003: The Nature of Artifacts. Environmental Ethics 25 (2): 149-168. [pdf]
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Weiterführende Literatur
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